Die Virologin Brinkmann ist bei Anne Will fassungslos über die Hartohrigkeit der Politik, und der CDU-Ministerpräsident Hans ist fassungslos über seinen Parteikollegen Spahn.

Stuttgart - Wieder das alte Spiel bei Anne Will in der ARD, die Experten warnen, die Politiker wiegeln ab. Ein kleiner Spannungsmoment in der Talkrunde am Sonntagabend tauchte immerhin auf, als in der Sendung plötzlich von den Studiogästen die Sendung selbst thematisiert wurde: Da ging es darum, „wie die Gesellschaft diskutieren“ müsse angesichts der explodierenden Inzidenzen und dass nur durch massive Aufklärung und Werbekampagnen die Ungeimpften zur Einsicht bewegt werden könnten, und dann sagte die Virologin Melanie Brinkmann: „Da muss mehr passieren. Es gibt ja auch ein paar Menschen, die Ihre Sendung nicht sehen, Frau Will. Der Winter ist noch lang und bis Ostern droht ein Horrorszenario.“

 

Hört bei Anne Will keiner mehr zu?

Auch die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann kündigte später an, welche Nebenkriegsschauplätze – gemeint war die allgemeine Impfpflicht – demnächst bei Anne Will debattiert werden sollten, und der wurde das dann ein bisschen zu viel. Es sei schon auffällig, wie häufig jetzt ihre Sendung in ihrer Sendung angesprochen werde, sagte sie. Hört bei ARD-Talkrunden keiner mehr zu? Tragen sie auch eine Mitschuld?

In der Warteschlange Ältere vorlassen

Natürlich nicht. Eher die Politiker, wenn man der Virologin Brinkmann, Professorin an der TU Braunschweig, glaubt. „Man hat gelockert, als die Inzidenzzahlen wieder hoch gegangen sind“, sagte Brinkmann. Dabei sei exponentielles Wachstum doch so leicht erklärbar, meinte sie. Am ersten Tag falle ein Regentropfen in ein Fußballstadion, am zweiten Tag seien es zwei, am dritten vier, am vierten acht, am fünften 16: „Am 42sten Tag ist das Stadion halb voll mit Wasser. Das sollte man doch verstanden haben!“ Und bei Inzidenzen ist es ähnlich. Die Impfquote von 70 Prozent sei bei weitem nicht ausreichend, die 2-G- und 3-G-Regeln werden die vierte Welle nicht brechen, glaubt Brinkmann. Die hohe Zahl der Ungeimpften sei „das Hauptproblem“. Es sei sicher gut, so die Virologin, wenn sich viele die Drittimpfungen geben ließen und man möge in der Warteschlange „bitte die Älteren vorlassen“, aber noch viel wichtiger seien die Erstimpfungen.

Beim „Großfeuer“ wird lange beraten

Auch die Psychologin Cornelia Betsch warf den Politikern Fehler vor, sie analysierte, dass die Bevölkerung die brisante Lage eigentlich richtig und gut einschätze, dass sie die 2-G- und 3-G-Regeln auch akzeptiere, dass aber „langsames Handeln und eine uneinheitliche Kommunikation“ wieder zum Vertrauensverlust in die Politik führen würden. So seien bei den Bund-Länder-Beschlüssen drei Warnstufen eingeführt worden, aber ausgerechnet bei der höchsten – dem Hospitalisierungsgrad neun – sei „der komplizierteste und längste Weg“ zur Entscheidungsfindung vereinbart worden, denn da müssten erst die Landtage beraten. Das sei so ähnlich wie bei einer Feuerwehr, die bei kleinen Bränden rasch eingreifen könne, bei einem Großfeuer aber erst lange beraten müsse.

Impfen bitte auch beim Tierarzt

In Teilen gaben sich die geladenen Politiker bei Anne Will immerhin kleinlaut. Man habe „sicher nicht zu 100 Prozent alles richtig gemacht“, so der Ministerpräsident des Saarlandes, Tobias Hans (CDU). Aber jetzt werde man im Saarland die Impfzentren wieder öffnen, und er sei dafür, auch in Apotheken, bei Zahnärzten und Tierärzten impfen zu lassen. Dem Vorstoß seines Parteikollegen Jens Spahn, dem Bundesgesundheitsminister, den Impfstoff Biontech nur noch begrenzt einzusetzen und mehr Moderna zu impfen, weil davon bald einige Dosen verfallen, erteilte Tobias Hans eine klare Absage: Das sei nicht akzeptabel und „ein ganz falsches Signal“. Der Biontech-Impfstoff sei bei der Bevölkerung äußerst beliebt, wer ihn schon zweimal hatte, der wolle ihn auch ein drittes Mal zur Auffrischung. „Ich habe die Erwartung an die Bundesregierung, dass genügend Impfstoff von Biontech zur Verfügung steht.“ Moderna sei auch ein sehr guter Impfstoff, so Tobias Hans, aber es sei auch nicht schlimm, wenn von Moderna „ein paar Dosen“ ins Ausland abgegeben werden.

Wird man bei der Impfpflicht „aus der Hütte gezerrt?“

Ob man nicht doch eine generelle Impfpflicht brauche, wie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) es ins Spiel gebracht hatte, wollte Anne Will wissen – und stieß bei den geladenen Politikern auf Ablehnung, die Vorbehalte betrafen vor allem die Frage, ob da eine gerichtsfeste Lösung möglich sei. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte, dass man ja gerade eben erst einen wichtigen „Instrumentenkasten“ beschlossen habe, und er nichts von Politikern halte, die sich gleich danach „mit markigen Sprüchen verewigen, weil sie es schick finden“. Statt die nächste Debatte anzuzetteln müsse erst einmal die Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen angegangen werden. Die FDP-Politikerin Strack-Zimmermann regte eine Begriffsdefinition an: Es könne ja nicht um einen Impfzwang gehen, also, „dass einer aus seiner Hütte gezerrt wird und man ihm die Spritze in den Oberarm rammt“. Möglich sei eine Impflicht auch als verpflichtendes Beratungsangebot. Überhaupt war die FDP-Politikerin davon überzeugt, dass mit guter Aufklärung auch über soziale Netzwerke noch die Hälfte der Ungeimpften erreicht werden könne, die ja vor allem Ängste hätten und „der Gesundheitsminister sollte da mal Gummi geben“. Die andere Hälfte der Ungeimpften aber sei „im Leben falsch abgebogen, die lassen wir mal“.

Was kommt nach der vierten Welle?

Offener zeigten sich die Virologin Brinkmann und die Psychologin Betsch bei der allgemeinen Impfpflicht. „Die Zeit rennt uns weg. Wir müssen doch jetzt debattieren, was passiert, wenn sich nicht genug impfen lassen“, meinte Brinkmann. Und auch Betsch forderte eine „Enttabuisierung“ des Themas. Die Impfbereitschaft steige derzeit zwar, schieße aber nicht durch die Decke: „Wir müssen uns fragen, was kommt nach der Welle?“