Für „Bergianerinnen und Bergianer“ dürfte es ein glückselig machendes Déjá-vu sein: Sie müssen nur im Stadtpalais in der Ausstellung „VRgangene Orte“ eine Virtual-Reality-Brille aufsetzen – und schon stehen sie wieder in einer der hölzernen Original-Außenkabine des alten Stuttgarter Bad Berg. Genauso können sie in der spektakulären 360-Grad-Inszenierung an den Schließfächern entlang durch die Umkleiden flanieren, um sich dann dem Mineralwasser-Becken und den gelben Liegestühlen zu nähern. „Der Charme der 1950er Jahre schmeichelt überall“, kommentiert Heiko Stachel auf der Tonspur.
Wasserglucksen als akustische Kulisse
Mit seiner speziellen 360-Grad- Kamera hat der Stuttgarter Fotograf nicht nur den Zustand des Kult-Bades vor seiner 2020 abgeschlossenen Modernisierung dokumentiert, sondern noch viele weitere Orte, kurz bevor sie aus dem Stuttgarter Stadtbild getilgt wurden: die Katholische Kirche St. Peter in Cannstatt, das Innenministerium in der Dorotheenstraße, die Kinderklinik Olgäle.
Seine ausgefeilte Panoroma-Fotografie kombiniert der 49-Jährige mit diversen Software-Programmen zu virtuellen Rundgängen durch diese Bauten und Räume – und lässt sie so für den Betrachter im Stadtpalais wieder auferstehen. Ins mineralische Nass eintauchen, das können die Freunde des Bad Berg im Stadtmuseum freilich nicht. Die begleitende Soundinstallation liefert an dieser Station aber in Form von Wasserglucksen die passende akustische Kulisse.
Rundum-Ansichten per Wischen am Touchscreen
56 Gebäude öffnen sich dem Ausstellungsbesucher, an den neun VR-Stationen sowie auf Fotografien in unterschiedlichen Formaten. Zudem stehen Touchscreens bereit, an denen man sich, gestützt durch Grundrisse, durch und um die Bauten, etwa die Villa Berg, bewegt und durch Wischen tolle Rundum-Ansichten erhält: Im Sendesaal kann man sich beispielsweise einfach mal kurz zur Orgel umdrehen, auf dem Dach blickt man über ganz Stuttgart. Hinzu kommen Exponate wie etwa der Fassadenschriftzug des Hotel Hirsch in Botnang oder ein Stapel Parkettbretter aus dem abgebrochenen Parkettwerk Frank.
„Ausgedient und abgerissen – drei große Fabrikgebäude“, „Einstiges Nachtleben – Kneipen, Cafés und Clubs“ oder „Umstritten – Neunutzung gesucht“ – Heiko Stachel hat zusammen mit dem Kurator Frank Lang und dem Ausstellungsgestalter Steffen Vetterle sein Material zu Themen-Nischen gruppiert; aus Bauzäunen und -planen ist ein origineller, atmosphärisch passender Ausstellungsparcours entstanden. In noch mehr vergangene Orte eintauchen kann man in einem gesonderten Projektionsraum, in dem eine Panorama-Foto-Show drei Wände einnimmt.
Erinnerung für nachfolgende Generationen
Spektakulär ist die Reise durch Raum und Zeit besonders dann, wenn sich Räume entdecken lassen, zu denen man nicht einmal Zugang gehabt hätte, als diese noch existierten. So findet man sich per VR-Utensil plötzlich in den 2014 abgerissenen Schoch-Fabrikhallen in Feuerbach vor den maroden Tauchbädern wieder, in denen die Arbeiter einst Metalle verchromten und vernickelten – und den Untergrund massiv verseuchten.
Hier berührt die Arbeit Stachels die sogenannten „Lost Places“, die als Fotomotive gerade schwer im Trend sind. Doch während die Dornröschenschlaf-Orte noch verfallen, sind Stachels Architekturobjekte gar nicht mehr existent. Die Erinnerungsdimension sei ein wesentliches Motiv für ihn, sagt der Künstler, Technik-Faszination und sein Gespür für Räume – er hat Architektur studiert – nennt er als weitere Antriebsfedern seiner speziellen Form der Fotografie. Am Eingang der Ausstellung sind die Besucher aufgefordert, ihn auf Orte hinzuweisen, deren letzte Stunde womöglich bald geschlagen hat.
Freudiges wie auch schmerzvolles Wiedersehen
Die Schau macht die Dimensionen des stetigen Wandels der Stadtarchitektur, in vielen Fällen aber eben auch den damit einhergehenden schmerzlichen, unwiderruflichen Verlust greifbar. Szene-Locations wie das poppige Super Popular Sanchez, der charismatische Club Tonstudio – ohne sie erscheint das Stuttgarter Nachtleben eindimensionaler. Weitaus dramatischer sind freilich die baukulturellen Lücken, die durch umstrittene Neunutzungen von überragenden Architekturmonumenten wie etwa dem Hauptbahnhof oder der IBM-Hauptverwaltung von Egon Eiermann entstehen.
In dieses Kapitel fällt auch das Beispiel der Villa Bolz. Nur schwer nachzuvollziehen, dass der Wohnsitz des württembergischen Staatspräsidenten und NS-Widerständlers Eugen Bolz 2017 ausgerechnet Luxuswohnungen weichen musste anstatt als Gedenkstätte erhalten zu werden. In seinen informativen, persönlich gefärbten Kommentaren, die die virtuellen Rundgänge begleiten, deutet Stachel an, was er davon hält.
„VRgangene Orte“ im Stadtpalais
Schau
„VRgangene Orte“, bis 26. Juni, Stadtpalais – Museum für Stuttgart, Konrad-Adenauer-Straße 2. Geöffnet Di – So 10 bis 18 Uhr. Ostermontag geöffnet, Karfreitag geschlossen.
Künstler
Der Stuttgarter Heiko Stachel fotografiert seit 2012 Räume und Gebäude mit speziellen 360-Grad-Kameras. Sein Pseudonym lautet „Zitronenwolf“. So heißt auch seine Homepage, die unter anderem weitere virtuelle Rundgänge bereit hält. An der Universität Stuttgart lehrt Stachel, der auch Architekt ist, Darstellende Geometrie und Architekturdarstellungen.
Ukraine-Hilfe
Alle 26 Fine-Art-Prints der Ausstellung stehen nach dem Ausstellungsende zum Verkauf. Der Erlös geht an zwei Stuttgarter Einrichtungen, die Ukrainerinnen und Ukrainern in Stuttgart und in der Ukraine unterstützen.