Die VR-Brille Oculus Rift bekommt ernste Konkurrenz: Vive lässt die Nutzer nicht nur in eine virtuelle 3D-Welt eintauchen. Sie können sich dabei auch frei im realen Raum bewegen – ein Gefühl, wie auf dem Holodeck. Ein erster Test auf der Gamescom in Köln.

Köln - Der Raum ist abgedunkelt und rund drei mal drei Meter groß. Die Einführung zur Virtual-Reality-Brille HTC Vive dauert nur wenige Minuten: Die beiden Controller links und rechts in die Hand nehmen, mit einer Schlaufe am Handgelenk sichern, dann langsam das Headset von hinten wie ein Basecap über den Kopf streifen. Der Instruktor setzt noch einen Kopfhörer auf – und die Außenwelt verschwindet. Wie Geisterhände schweben vor dem Nutzer stattdessen die Controller im virtuellen Raum. Über die Kopfhörer gibt der Instruktor weitere Anweisungen – auf dem rechten Controller soll man einen Button drücken – und mit einem Mal bläst sich direkt aus dem Controller kommend, ein Ballon auf und schwebt davon. Ein kleiner Schubser, und der Ballon nimmt Tempo auf – ganz wie man es in der Realität erwarten würde.

 

In den vergangenen drei Jahren hatte die Brille Oculus Rift den Ton angegeben. Der damals 20-jährige US-Amerikaner Palmer Luckey hatte den Prototypen in seiner Garage in Kalifornien zusammengeschraubt. Diese Brille zeigt auf einem Bildschirm zwei Bilder – eins für das linke und eins für das rechte Auge. Für den Nutzer entsteht so ein dreidimensionaler Eindruck. Dank eines Blickfeldes von bis zu 110 Grad fühlt man sich in eine 3-D-Welt hineinversetzt. Weil Sensoren die Kopfbewegungen erfassen, kann man sich in der virtuellen Welt umsehen. Was als Crowdfunding-Projekt begann, bei dem Interessenten Geld zusammenlegen, ist mittlerweile von Facebook für zwei Milliarden Dollar gekauft worden – eine gigantische Wette auf die Zukunft. Quasi über Nacht entstand ein Hype, der inzwischen die gesamte Computerbranche erfasst hat.

Man fühlt sich wie auf dem Holodeck

Mittlerweile hat Oculus Rift Konkurrenz bekommen, und eine besonders scharfe kommt vom Smartphone-Hersteller HTC, der auf der Gamescom in Köln das Headset Vive präsentiert – europaweit zum ersten Mal. Das Headset wurde in Kooperation mit der Firma Valve entwickelt, die für ihre Computerspiele wie „Portal“ und „Half-Life“ bekannt ist. Die Brille Vive bildet um den Spieler herum eine virtuelle Welt, wie man sie noch nie zuvor gesehen hat. Nach dem Luftballon wird die erste umfassende Demonstration mit dem Namen „The Blu“ eingespielt. Plötzlich steht der Nutzer auf dem Heck eines untergegangenen Schiffes. Über und neben ihm schwimmen Fische. Erneut ein Schubs mit dem Controller, schon stieben sie in alle Richtungen davon. Aus der Tiefe des Ozeans taucht ein Wal auf und schwimmt auf Greifnähe heran. Man wandert auf dem Deck umher, um dem Wal noch ein wenig zu folgen, dann entschwindet er wieder in der Tiefe.

Das ist das Besondere an der Brille: Sie erlaubt freie Bewegungen im Raum – wie auf dem Holodeck des Raumschiffs Enterprise aus der Reihe „Star Trek“. Der virtuelle Raum, der aufgespannt wird, ist so groß wie der echte Raum, in dem man sich befindet. Damit man an nicht in der Realität gegen eine Wand läuft, wird ein virtuelles Gitter aufgespannt, das dem Nutzer rechtzeitig signalisiert: Vorsicht, bitte nicht weitergehen! Zwei sogenannte Lasertracker, so groß wie kleine Lautsprecher, müssen dafür in den Ecken des Raum installiert werden, von wo aus sie alle Bewegungen des Anwenders im Raum verfolgen. Sie registrieren, wo sich sein Kopf und seine Hände befinden. Kopf- und Handbewegungen werden so eins zu eins in die virtuelle Realität übernommen. Damit wird möglich, sich im virtuellen Raum umzuschauen, als sei man tatsächlich dort. Anders gesagt: der Nutzer bewegt sich durch den virtuellen Raum wie durch den realen.

Die nächste Demonstration heißt „Quar“ und führt ins Land Liliput. Im Raum steht ein Tisch, auf dem Miniaturfiguren in eine Schlacht verwickelt sind. Es knallt und pufft, aus kleinen virtuellen Kanonen fliegen miniaturisierte Kanonenkugeln. Alles lässt sich genau in Augenschein nehmen, auf dem Tisch wuseln die Männchen, geradewegs so, als wären sie lebendig. Man kann um den Tisch herumlaufen und hinter die Mauern der Burg blicken.

Eine Tomatenschlacht in der virtuellen Küche

Die Szene wird ausgeblendet, und als Nächstes soll der Nutzer in einer virtuellen Küche Tomatensuppe kochen. Der Blick in den Topf ist ebenso möglich wie der Griff in den Kühlschrank. Zieht man mit dem Zeigefinger am Abzug der Controller, umfasst die virtuelle Hand das Objekt. Zwei weitere Taster an den Seiten der Controller können mit zusätzlichen Greif-Funktionen belegt werden. So öffnet man etwa eine Schublade oder holt Tomaten aus dem Kühlschrank. Mit Schwung kann man die Tomaten auch an die Wand werfen oder versuchen, mit ihnen zu jonglieren. Über einen versauten Küchenboden schimpft hier niemand.

Das Beste aber hebt sich Valve für den Schluss auf: Man steht in einem Geschäft für Fantasy-Abenteurer und bewundert von allen Seiten einen kleinen Drachen im Regal. Mit einem Klick auf dem Controller wird man selber miniaturisiert und steht neben dem Drachen im Shop aus dem Computerspiel „Dota 2“, in dem man die Spielfiguren ausrüsten kann. Das fühlt sich so seltsam an, dass man sich am liebsten die Augen reiben möchte – was wegen der Brille natürlich nicht geht. „Dota 2“ ist ein von Valve programmiertes Action-Fantasy-Rollenspiel. Der Hersteller experimentiert also zunächst mit selbst entwickelten Spielen und erforscht, was mit ihnen in der virtuellen Realität möglich ist. Vorerst lässt sich der virtuelle Raum aus verschiedenen Perspektiven erkunden – mal vom Fensterbrett aus, mal auf dem Tisch stehend.

Die Zeit verfliegt, das Ganze wirkt wie ein wahr gewordener Traum. Doch dann ist die Demonstration vorbei. Der Nutzer legt Controller und Brille vorsichtig auf dem Boden des schmucklosen Raumes ab. Alles ist wieder grau in grau. Wie öde wirkt die Realität – sofort will man wieder zurück.

Hardware, Preis und Markteinführung

Hardware
Virtuelle Realität stellt hohe Ansprüche an den Computer. Die Grafikkarte sollte zu den Top-Modellen zählen, denn das Bild muss für das linke und rechte Auge unterschiedlich berechnet werden. Hersteller wie Nvidia oder ATI entwickeln Treiber. Forscher glauben, dass die beiden nächsten Jahre den Durchbruch für die virtuelle Realität bringen.

Brille
Der Hersteller Valve forscht seit drei Jahren an dem Vive-System. Zehn Prozent der 350 Beschäftigten sind damit betraut. Eine Entwicklerversion wurde bereits an Studios ausgeliefert, der Verkauf an Konsumenten soll vor Weihnachten beginnen. Der Preis steht noch nicht fest, soll aber etwas höher liegen als bei der Brille Oculus Rift, die rund 300 Euro kostet. Die Vive-Brille lässt sich in jedem Raum nutzen – sofern so viel Platz vorhanden ist, dass man darin ein wenig umherlaufen kann.