San Francisco - Wenn Philip Rosedale das zeigen will, was ihn seit seiner Kindheit beschäftigt, dann reicht er ein Virtual-Reality-Headset, Kopfhörer und Controller und verschwindet selbst hinter einem Headset, „kommen Sie mit!“, ruft er noch, auch wenn er nirgendwo hingeht, zumindest sein physischer Körper nicht. Und doch betritt er eine andere Welt. „Hier, das ist meine Welt“, sagt er, während die Besucherin noch mit der Technik kämpft. Schon in den ersten Minuten eines Interviews mit dem 46-jährigen Unternehmer werden die Prioritäten fühlbar – er ist in der virtuellen Realität, sein Körper steht noch im Raum.
Und auf einmal löst sich die schnöde Realität in Luft auf: Die unverputzte Steinmauer im High-Fidelity-Lab am Rande der Innenstadt von San Francisco verschwindet, die Bücher im Regal, die dunklen Vorhänge vor den Fenstern, die sowohl die Sonne als auch das graue Draußen vor den Fenstern zwischen überquellenden Müllcontainern, Graffiti und Obdachlosen vom konzentrierten Drinnen trennt; und all die fleißigen Programmierer und Entwickler, die hier vor den Bildschirmen sitzen und nahezu geräuschlos vor sich hin arbeiten.
Vor zwei Jahren hat Rosedale diesen Treffpunkt in der virtuellen Welt eröffnet
Stattdessen betritt Rosedale mit seiner Besucherin eine üppige grüne Landschaft, große Fliegenpilze, saftiges Moos – und ein paar seltsame Gestalten: eine schaurig dürre, bleiche Frau ganz in Schwarz, die eine Rose im Haar und Hände wie Zangen hat. Und eine braunhaarige Dame in einem rosa Ballettkleid, mit Schmetterlingsflügeln und einer mehrstöckigen Torte auf dem Kopf. Rosedale selbst hingegen ist vergleichsweise hübsch: Er scheint zwanzig Jahre jünger geworden zu sein, seine grauen Haare sind verschwunden, er ist ein blonder Jüngling, dessen graues T-Shirt über der Brust spannt. „Hey Michelle, wie geht’s?“, begrüßt er die rosa Frau, dann plaudern die beiden ein wenig über das echte und das virtuelle Leben, schließlich bittet Rosedale die Besucherin weiter in den Wald, vorbei an kleinen Felsblöcken, über grünen Waldboden, es scheint beinahe ein wenig moosig zu riechen, auch wenn das nicht sein kann.
Rosedale hat vor zwei Jahren, im April 2016, diesen Treffpunkt in der virtuellen Welt eröffnet – und auf einmal schienen all seine Träume wahr zu werden: eine andere Realität zu schaffen. Einen solchen Moment gab es schon einmal in seinem Leben. 2006 gründete er mit seinem damaligen Unternehmen Linden Lab die Plattform Second Life im Internet. Innerhalb kürzester Zeit tummelten sich dort Millionen von Kunstmenschen, es entstand eine eigene Volkswirtschaft, die Nutzer eröffneten Geschäfte, gründeten Unternehmen, bauten ganze Städte.
Mit Second Life ist sein Traum zum ersten Mal gestorben
Doch dann ging es auf einmal bergab mit Second Life. Die Plattform stagnierte drei Jahre nach ihrer Gründung, verlor schließlich aktive Nutzer, wurde totgesagt – auch wenn sie bis heute lebt. Einige Tausend Nutzer sind nach wie vor aktiv. Aber all das weiß Rosedale nicht mehr so genau, denn zwei Jahre nach dem Niedergang trat er zurück und verließ 2009 das Unternehmen Linden Labs schließlich. Sein Traum war zum ersten Mal gestorben.
Und jetzt dieser Luftballon! „Hier, fangen Sie!“, ruft der virtuelle Rosedale auf einmal und wirft einen großen roten Ballon in die Luft. Wer intuitiv die Arme ausstreckt – im echten Leben und damit zeitgleich im virtuellen –, fängt ihn mühelos auf. Die Controller, die Rosedale und seine Besucherin im echten Leben in den Händen halten, haben sich hier in Hände verwandelt, die dem Nutzer gehorchen wie echte Hände. Ebenso mühelos kann man den Ballon wieder in die Luft werfen – er gehorcht der Physik eines Luftballons, lediglich sein Gewicht ist nicht zu spüren.
Sein Traum: die Physik der echten Welt in den Computer zu bringen
Um zu verstehen, warum dieser Luftballon Rosedale heute so glücklich macht, muss man weit zurück in die Vergangenheit, bis zum pubertierenden Philip, der damals zwei Dinge nahezu gleichzeitig entdeckt: Computer und Physik. „Beides hat mich fasziniert, und ich habe mich gefragt, wie man beides miteinander verbinden kann.“ Sein Traum, die Physik der echten Welt in den Computer zu bringen, resultiert aus dieser Zeit, als er mit 16 erste Computer-Netzwerke baute, noch bevor es das Internet gab, und fantasierte, wie eines Tages die Welt virtuell nachgebildet werden würde. Nach seinem Studium der Informatik und der Physik entdeckte er 1994 das Wesen des Internets – Millionen vernetzter Computer, die einen ganz neuen Raum bilden. Aber das Dreidimensionale fehlte diesem neuen Raum, so dass Rosedale seinen Traum aufschob und zunächst eine Firma für die digitale Bearbeitung von Filmen gründete, deren Verkauf an einen Streamingdienst ihn bereits mit 28 Jahren zum Millionär machte.
Der Film „Matrix“ sei schließlich der Auslöser gewesen, etwas in seinem Leben zu ändern, sagt er. Dort wird eine Realität beschrieben, die nur in den Gehirnen der Menschen existiert und dennoch so perfekt ist, dass diese sie für die Realität halten. Eine virtuelle Realität! Physik im Computer! Rosedale wurde klar, wie drängend sein Traum nach wie vor war. Doch das Scheitern von Second Life mehrte auch seine Zweifel. Er erinnert sich noch genau an den Tag, an dem die Hoffnung siegte: Im Herbst 2011 spielte er im Büro mit einem Gyroskop, einem Sensor zur Lagebestimmung, herum – und er sah, wie schnell die Bewegungen des Sensors auf seinen Computer übertragen wurden, „ich konnte keine Verzögerung wahrnehmen“. Nachdem er einige Zeit gespielt hatte, rief er seine damaligen Mitarbeiter einer Internet-Handelsplattform zusammen und sagte: „Leute, wir hören hier auf, wir müssen zurück in die virtuelle Realität.“
Rosedale ist kein Spinner – mit seiner Idee ist er nicht allein
Sechs Jahre später spaziert er wie ein stolzer Großgrundbesitzer durch seinen eigenen virtuellen Wald und schwärmt noch immer von dieser Entdeckung. „Die Verzögerung beträgt nur noch 100 Millisekunden – das reicht für beinahe alles!“ Diese Verzögerung bemerken Menschen in der Regel nicht. Wer im echten Leben einen Schritt tut, tut den gleichen Schritt in gleicher Länge in der künstlichen Umgebung. Dadurch entsteht der Eindruck, tatsächlich in dieser Welt zu sein, tief eingetaucht in die Immersion, wie Forscher sagen.
Rosedale ist kein Spinner, mit seiner Idee einer matrixartigen virtuellen Realität ist er nicht allein. Unter anderem der US-Philosoph David Chalmers geht ebenfalls davon aus, dass die virtuelle Realität eines Tages die reale Welt gleichwertig ergänzt. „Das wird keine Zweite-Klasse-Realität sein“, sagt er, „ich sehe nicht, wieso man in einer virtuellen Umwelt nicht ein ebenso erfüllendes und sinnhaftes Leben führen können sollte wie in der Realität.“
Wer die Datenbrille aufsetzt, verschwindet für sein Umfeld mental
Doch es bleibt eine Geschichte mit offenem Ausgang. Wie und ob sich die virtuelle Realität auf dem Massenmarkt etablieren wird, ist noch völlig offen. Es gibt vier oder fünf vergleichbare Plattformen, die einen ähnlichen Ansatz verfolgen wie Rosedales Unternehmen High Fidelity: Sie setzen darauf, dass sich Menschen in alternativen Realitäten treffen können. Es geht dabei weniger um Spiele, sondern vorrangig darum, ein soziales Leben aufzubauen. Das erscheint zunächst wie ein Widerspruch, und es ist einer, der Philip Rosedale besonders schmerzt: „Virtuelle Realität isoliert die Menschen, und es ist unsere Verantwortung, dagegen zu arbeiten.“ Wer die Datenbrille aufsetzt, verschwindet für sein Umfeld zwar nicht sichtbar, aber mental: Sein Bewusstsein ist in einem anderen Raum.
Als Philip Rosedale unter seiner Datenbrille hervorschlüpft und sich das Interview wieder in die reale Welt dieser Fabriketage in San Francisco verlagert, wird klar, was gefehlt hat: Rosedales mitreißendes Lächeln beispielsweise, das sich über sein ganzes Gesicht legt und aus seinen blauen Augen strahlt, wenn er von der Zukunft spricht. Diese Zukunft, die seinem Traum immer näher kommen wird – wenn alles gut geht. Seine Begeisterung ist mitreißend, wenn er schildert, wie er an einer Lösung für die Mimik arbeitet, sei es über eine Kameraaufnahme der Augen oder der Mundpartie, oder auch über die Stimme, deren Nuancen erstaunlich gut mit der Mimik korrelieren.
„Die Regierung ist daran interessiert, nicht nur wir“, ruft Rosedale
Doch Rosedale schaut auch kritisch auf die realen Optionen der virtuellen Realität. Einige davon machen ihm Mut: Womöglich verzichtet die Menschheit künftig auf viele Flugreisen. Kürzlich habe ihn eine Anfrage des US-Energieministeriums erreicht: Man schreibe einen Wettbewerb für Telepräsenz-Konzepte und Business-Meetings von Avatar zu Avatar aus. „Die Regierung ist daran interessiert“, ruft Rosedale aus, „nicht nur wir.“
In der Tat zeigen verschiedene Projekte das Potenzial der virtuellen Realität im Geschäftsleben. Anders als in Telefonkonferenzen sind Nutzer zusammen in einem Raum und lassen sich nicht von anderen Dingen ablenken. Sie können sich gemeinsam über Dokumente beugen, dreidimensionale Abbildungen eines Modells herumreichen oder virtuelle Modelle von künftigen Bauwerken gemeinsam begehen und Änderungen diskutieren.
Die virtuelle Realität wird besser werden – davon ist Rosedale überzeugt
Seine womöglich größte Konkurrenz ist das echte Leben, aber das will Rosedale nicht wahrhaben. „Viele Dinge können wir im Virtuellen besser machen als im echten Leben, die reale Welt ist nicht der einzige Ort, an dem wir uns aufhalten können.“ Aber wieso sollten Nutzer in die virtuelle Welt eindringen wollen, wenn sie im echten Leben Menschen haben, die sie umarmen können, wenn sie echte Gefühle und Gesichter haben, wenn die Interaktion so viel echter ist? Ja, darüber habe er auch schon nachgedacht, sagt Rosedale ernst. Aber seine Erfahrung zeige: Es gibt den Bedarf. „Schon jetzt verbringen viele Menschen viel Zeit in virtuellen Welten.“ Es seien Menschen, deren reales Leben vielleicht nicht so glatt laufe. Die in einem wenig attraktiven Umfeld lebten, die einsam seien, die sich vielleicht aufgrund einer Behinderung nicht fortbewegen können.
Und die virtuelle Realität wird besser werden, davon ist Rosedale überzeugt. „Irgendwann werden wir nur zurückkommen, um zu essen und zu lieben.“ Die echte Welt sei dann nur noch eine Option unter vielen. Ein Museum, wie Rosedale sagt.