Erstmals findet an diesem Mittwoch auf der virtuellen Plattform Zwift eine Weltmeisterschaft im E-Cycling statt – mit einigen prominenten Profis und dem Ziel, sich selbst neue Perspektiven eröffnen.

Stuttgart - Wer im E-Sport Erfolg haben will, muss mehr sein als nur ein Zocker. An der Konsole kommt es auf Koordination und Konzentration an, auf Strategie und stundenlanges Durchhalten. Eher weniger auf Kraftausdauer, Maximalkraft und Schnellkraft – normalerweise. Denn es gibt in der virtuellen Welt durchaus Wettbewerbe, in denen es genau um diese Werte geht. Einer davon steigt an diesem Mittwoch, und die erste WM im E-Cycling gilt nicht nur wegen ihrer prominenten Besetzung als höchst interessant, sondern auch, weil Rennen auf der Rolle dem Radsport ganz neue Perspektiven eröffnen.

 

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Vergeben werden WM-Titel für Frauen (14.45 Uhr) und Männer (15.45 Uhr/beide live auf Eurosport 2). Die Strecke ist jeweils 50 Kilometer lang und weist 483 Höhenmeter auf, gefahren wird auf der Plattform des US-Unternehmens Zwift. Die Teilnehmer strampeln zu Hause auf der Rolle, ihre Leistung wird per App in ein virtuelles Renngeschehen übertragen. Bei der WM duellieren sich einige Top-Profis, allen voran die amtierende Doppel-Olympiasiegerin und Doppel-Weltmeisterin Anna van der Breggen (Niederlande) sowie der dreimalige Tour-Etappensieger Edvald Boasson Hagen (Norwegen), und weitere Berufsrennfahrer mit einigen der besten Radsportler aus der 1,5 Millionen Mitglieder großen Zwift-Community, die für die Rennen ausgewählt wurden.

„Wir schreiben Geschichte“

Für Deutschland geht unter anderem Jonas Koch an den Start, der zuletzt in der World-Tour für das CCC-Team fuhr. „Zwift ist schon ein paar Jahre mein Begleiter, vor allem im Wintertraining“, sagt der Radprofi aus Rottweil, der sich gut auf die WM vorbereitet hat: „Theoretisch konnte man den Kurs ja vorher jeden Tag nach Lust und Laune abfahren.“ Auch Tanja Erath (Heilbronn), die vor einigen Jahren über einen Zwift-Wettbewerb zu einem Profivertrag kam, freut sich auf die Titelkämpfe: „In Corona-Zeiten ist die virtuelle Rad-WM eine tolle Chance, ohne Risiko ein Sportevent abzuhalten. Dieses Format hat Zukunft, weil man Wettbewerbe ohne großen Aufwand organisieren kann.“ Das ist richtig. Den Verantwortlichen aber längst nicht genug.

Der Radsport-Weltverband (UCI) und Zwift sehen die erste gemeinsame WM als Start in eine neue Dimension. „Wir schreiben Geschichte“, sagt Eric Min, Vorstandschef und Mitbegründer der Plattform, die im Sommer auch schon eine Tour de France im Gaming-Format ausgerichtet hat, „diese Veranstaltung weist in die zukünftige Richtung von Sport, Fitness und Wettbewerb. Sie verbindet Technologie perfekt mit dem, was wir traditionell mit körperlichem Sport assoziieren. Unser Ziel ist es, innerhalb einer Sportart eine neue Sportart zu schaffen.“ Und somit auch bisher vernachlässigte Zielgruppen anzusprechen. „Der E-Sport bietet eine fantastische Gelegenheit für die Entwicklung des Radsports“, meint UCI-Präsident David Lappartient, „es ist eine neue Art des Radfahrens, die rasant wächst und ein jüngeres Publikum anzieht.“

Vom Sofa aufs Fahrrad – ist das möglich?

Die Frage ist nur: stimmt das? Bei der Suche nach einer Antwort, die Hoffnung macht, würde es Bradley Wiggins zumindest auf einen Versuch ankommen lassen. Der britische Tour-Sieger und fünfmalige Olympiasieger philosophiert schon länger darüber, welche Vorteile ein E-Sport hätte, der zugleich hohe physische Anforderungen stellt. „BMX kam in den 80ern aus dem Nichts, als ich ein Kind war. Jetzt ist es olympische Disziplin. Die Geschichte des Radfahrens entwickelt sich ständig weiter – und als Vater möchte ich, dass unser Sport für Jugendliche zugänglich ist und Inspiration bietet“, sagt Wiggins, „wenn ein Computerspiel Kinder vom Sofa auf ein Fahrrad bringen kann, um zu trainieren und an Wettkämpfen teilzunehmen, dann bin ich ein Unterstützer.“

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Franziska Brauße ist da etwas skeptischer. Auch die Bahnradspezialistin aus Eningen, die 2021 in Tokio um olympische Medaillen kämpfen will, nutzt Zwift als Trainingsplattform, vor allem bei schlechtem Wetter. Dass E-Cycling die Zukunft des Radsports verändern wird, daran glaubt sie allerdings nicht. „In den Rennen kommt es nur darauf an, Vollgas zu geben. Es zählt allein, wie viel Watt pro Kilogramm man treten kann. Deshalb sehe ich Zwift vor allem als gute Ergänzung, dies aber auch für Profis“, meint Brauße, die ihre Teilnahme an der ersten virtuellen WM kurzfristig abgesagt hat, weil sie sich nach einem anstrengenden Bahn-Lehrgang in Frankfurt/Oder nicht gut genug in Form fühlt: „Ich habe viel im Kraftbereich gearbeitet, und ich will natürlich nicht bei einer WM starten, bei der ich nur hinterherfahre.“ Klar, verlieren will niemand. Weder beim Zocken, noch beim Radfahren. Und auch nicht beim E-Cycling.