Stuttgart - Die Frage klingt, als habe sie sich ein Apokalyptiker ausgedacht: Werden bald Tausende, vielleicht eher Zehntausende Menschen in Stuttgart und der Region zwangsweise in Coronaquarantäne geschickt? Verfolgte man die Entwicklungen der vergangenen Tage, drängte sich der Eindruck auf: Was sich nach einem Katastrophenszenario anhört, kann schnell bittere Realität werden. Mehrere, sich teils gegenseitig verstärkende Faktoren haben dazu geführt, dass die Zahl der Quarantänefälle drastisch anstiegen ist. Die Kurve war auf dem Weg zu einem Niveau, wie es weder in der ersten Coronawelle noch in der zweiten annähernd erreicht wurde.
Wenige Infektionen an einer Schule – sofort mussten 200 Menschen in Quarantäne
Lange hieß es, Schulen und Kitas seien in Deutschland keine Treiber der Pandemie. In immer kürzeren Abständen wurden in den vergangenen Tagen in der Region indes Vorfälle bekannt, die diese These zumindest ins Wanken bringen.
Einige Beispiele: In Pattonville, einer Wohnsiedlung zwischen Kornwestheim und Remseck, wurde eine Erzieherin positiv auf das Coronavirus getestet. 150 Kinder, Erzieher und die Angehörigen mussten in Quarantäne. In Nellingen im Kreis Esslingen sind sogar 250 Personen in Quarantäne, weil ein Kind infiziert war. In Freiberg am Neckar (Kreis Ludwigsburg) wurde ebenfalls ein Kind positiv getestet, alle Kita-Mitarbeiter, Kinder und Haushaltsangehörigen: in Quarantäne. Am Georgii-Gymnasium in Esslingen wurden jüngst beide Abschlussklassen kurz vor dem Abitur in Quarantäne geschickt, außerdem Lehrkräfte, Kontaktpersonen und Kontaktpersonen von Kontaktpersonen: insgesamt 200 Menschen.
Der Verwaltungsgerichtshof kippt am Mittwoch Teile der Corona-Verordnung
In allen Fällen hatten sich Menschen mit einer der ansteckenderen Virusmutanten infiziert – und das war ein entscheidender Faktor: Für Mutanten galten bisher strengere Quarantäneregeln als für das klassische Virus. Konkret: War eine Mutation im Spiel, mussten nicht nur Kontaktpersonen, sondern auch Kontaktpersonen von Kontaktpersonen in häusliche Isolation. Was dazu führte, dass wegen ein paar wenigen Infektionsfällen schnell Dutzende oder Hunderte Menschen in häusliche Isolation mussten.
Genau das allerdings ändert sich nun wieder – nicht auf Betreiben des Landes, das sich diese Verordnung einst ausgedacht hatte, sondern wegen eines Urteils des baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH), der am Mittwoch einem Eilantrag eines Ehepaars mit drei Kindern stattgegeben hat. Für Kontaktpersonen von Kontaktpersonen gelte kein hinreichender Ansteckungsverdacht, heißt es in der Begründung, und die Richter in Mannheim verweisen dabei auf eine Bewertung des Robert-Koch-Instituts. Demnach könnten Haushaltsangehörige nicht ohne Weiteres als ansteckungsverdächtig eingeordnet werden.
Das Urteil bremst den Anstieg der Quarantänefälle – aber zu welchem Preis?
Die Absonderungsverordnung in Baden-Württemberg ist damit mit sofortiger Wirkung in diesem Punkt vorläufig außer Vollzug gesetzt. Wie das Land reagiert, ist noch unklar. Das Urteil wird also, solange es nicht angefochten oder gekippt wird, den weiteren Anstieg der Quarantänefälle bremsen. Allerdings mit dem Nebeneffekt, dass, weil von sofort an weniger Menschen isoliert werden, vermutlich die Inzidenzen schneller nach oben gehen.
Zudem gibt es Faktoren, die den dämpfenden Effekt des VGH-Urteils auf die Quarantänezahlen zunichte machen könnten. Der wichtigste ist: Die Mutationen breiten sich immer stärker aus, und die Zahl der Ansteckungen in der Region Stuttgart wächst stetig. Beides wird zwangsläufig dazu führen, dass immer mehr Personen isoliert werden müssen. Die Landeshauptstadt ist bislang vergleichsweise glimpflich davongekommen: Bereits Ende Februar musste Stuttgart drei Kitas dichtmachen wegen Mutationen, aktuell sind nach Angaben der Stadt insgesamt rund 300 Einwohner wegen Mutationen in Quarantäne.
Die Gesundheitsämter bleiben vorsichtig
Aber, und auch das wird nun zum Faktor: Erst vor wenigen Tagen sind zahlreiche Klassenstufen im Land komplett in den Präsenzunterricht zurückgekehrt. Und auch wenn nach dem VGH-Urteil nicht mehr automatisch alle Haushaltsangehörigen eines infizierten Schulkinds in Quarantäne müssen, ist die Schulöffnung an eine strenge Kontaktpersonennachverfolgung gekoppelt. „Es ist davon auszugehen, dass die Kontaktpersonennachverfolgung und das Kontaktpersonenmanagement vor allem bei Mutanten-Infektionen zu einer erhöhten Anzahl von Menschen in Quarantäne führt“, sagt dazu der Ministeriumssprecher Pascal Murmann. Dies sei jedoch wichtig, um Folgefälle und weitere Übertragungen zu vermeiden.
Im Kultusministerium betont man unterdessen, dass Kitas und Schulen auch in der aktuellen Situation keine Treiber von Infektionen seien. Richtig sei aber, dass nun deutlich mehr Personen von Quarantänemaßnahmen betroffen seien: „Hier reagieren die Gesundheitsämter sehr um- und vorsichtig, um einen sicheren Schulbetrieb zu ermöglichen“, sagt der Ministeriumssprecher Benedikt Reinhard.