In den Tropen ziehen Vögel weniger Nachwuchs auf als in kühleren Gefilden. Das hat Biologen lange gewundert, denn so können Nesträuber eine Vogelart eigentlich leichter dezimieren. Doch nun gibt es eine Erklärung für dieses Rätsel der Evolution.

Stuttgart - Die Situation scheint paradox: In den tropischen Regionen bietet die Natur oft reichlich Nahrung, aber die Vogeleltern ziehen häufig nur zwei Küken groß. In gemäßigten Gebieten wie Mitteleuropa dagegen ist das Angebot an Fressbarem häufig knapper. Und doch sperren oft fünf, sechs oder noch mehr Vögel bettelnd ihre Schnäbel auf. Evolutionsbiologen rätseln schon lange über diese unterschiedlichen Strategien in puncto Nachwuchs, haben bis jetzt aber keine stichhaltige Erklärung gehabt. Die liefert jetzt Thomas Martin von der University of Montana im Wissenschaftsmagazin „Science“.

 

Der Forscher hat sich dazu die Strategien von jeweils 20 bis 30 Vogelarten angeschaut, die im gemäßigten Klima des US-Bundesstaates Arizona sowie in den Tropen Venezuelas und Malaysias ihren Nachwuchs großziehen. Prompt bestätigte Thomas Martin dort einen schon länger bekannten Widerspruch: Solange sich der Nachwuchs im Nest aufhält, ist er Räubern wie hierzulande Katzen und Eichhörnchen ziemlich hilflos ausgeliefert. Da hilft nur eines: möglichst schnell wachsen, um den Feinden bald auf eigenen Flügeln zu entkommen. So weit die Theorie, in der Praxis aber wachsen die Nestlinge in den Tropen langsamer als in gemäßigten Regionen, obwohl sie sich vor ähnlich vielen oder sogar mehr Feinden in Acht nehmen müssen.

Das widerspricht der Evolutionsforschung: Müssten doch die Räuber viele Nestlinge erwischen und so die Art über kurz oder lang auslöschen. Da die tropischen Arten schon lange mit dieser Strategie überleben, müssen die Forscher einen entscheidenden Punkt übersehen haben. Den hat Thomas Martin aufgedeckt: Bisher hatte man die höchste Wachstumsrate ermittelt und daraus auf die gesamte Zeit im Nest geschlossen. Doch die Küken wachsen nur in den Tropen gleichmäßig. In gemäßigten Breiten werden sie zunächst schnell und später langsamer größer. Weil sie zwischendurch eine hohe Rate aufweisen, hatten Forscher ihr Wachstum überschätzt. In den Tropen und andernorts verlassen die Küken ungefähr zur gleichen Zeit und mit derselben Größe das Nest. Daher dürfte das Risiko, in dieser Zeit von Räubern erwischt zu werden, überall gleich groß sein.

Mehr Energie für größere Flügel

Aber warum ziehen tropische Vögel weniger Küken auf? Den entscheidenden Unterschied fand Thomas Martin, als er sich das Wachstum der Flügel genauer anschaute, bei dem die tropischen Vögel höhere Raten erreichen als ihre Kollegen in gemäßigten Breiten. Wenn die kleinen Tropenvögel ihr Nest verlassen, haben sie daher größere Flügel, auf denen sie leichter ihren Feinden entkommen können als ihre Kollegen mit den kürzeren Gliedmaßen.

Allerdings verbraucht das Wachsen der Flügel viel Energie. Einen Teil dieser Mehrkosten decken die Tropenvögel mit dem gleichmäßigen Wachstum: Vor allem am Anfang brauchen die kleinen Körper noch weniger Energie, können daher die Flügel schneller wachsen lassen und verteidigen diesen Vorsprung auch später. Allein aber erklärt das die größeren Flügel noch nicht. Um das Wachsen der Gliedmaßen weiter zu beschleunigen, sitzen auch weniger Küken im Nest. Dadurch verteilt sich die von den Eltern herbeigeschleppte Nahrung auf weniger Geschwister, von denen so jedes mehr Energie in seine Flügel stecken kann.

Sobald die Jungen das Nest verlassen, verschaffen ihnen die größeren Flügel einen Überlebensvorteil. Obendrein sind in den Tropen die Zeiten mit knapper Nahrung wie etwa im mitteleuropäischen Winter oft schwächer ausgeprägt. Die ausgewachsenen Vögel darben weniger und können sich sogar den riskanten Zug in Regionen mit mehr Nahrung sparen. Die Sterblichkeit ist bei den ausgewachsenen Vögeln geringer, und sie leisten sich weniger Nachwuchs, ohne dass die Art ausstirbt.