Siegfried Kauder, der eigenwillige Querkopf aus dem Schwarzwald, will unbedingt im Parlament bleiben. Dafür kämpft er nun gegen die Partei – und seinen eigenen Bruder, Volker Kauder, der ihn per Parteiausschlussverfahren aus der CDU entfernen lassen will.

Stuttgart - Es ist ein friedlicher Julimorgen, als Thorsten Frei auf dem Podium in der Kantine der Kaufmännischen Schulen in Villingen Platz nimmt. 250 Schüler erwarten den blitzsauberen Oberbürgermeister von Donaueschingen. Frei, 39 Jahre alt, erscheint wie immer frisch gegelt und im blauweißkarierten Hemd zur blauen Krawatte und zum dunkelblauen Anzug. Frei ist als Bundestagskandidat der CDU für den Wahlkreis 286 Schwarzwald-Baar eingeladen worden. Neben ihm werden die Kandidaten der anderen Parteien platziert. Rechts sitzt der juvenile FDP-Mann in Jeans und Turnschuhen, links von ihm der gemütliche Förster, der für die SPD antritt, dann kommt eine Softwareberaterin um die 50 für die Grünen und ganz links außen ein Rollstuhlfahrer, den die Linke aus Tübingen hierher beordert hat. Läuft alles normal, werden sie gegen Frei und seine CDU keine Chance haben.

 

Der Wahlkreis 286 ist einer der strukturkonservativsten der Bundesrepublik. Die Christdemokraten haben in diesem herben Landstrich zwischen dem hinteren Kinzigtal und der rauen Baar seit Menschengedenken die Mehrheit. Die Basis bröckelt zwar, aber bei der letzten Wahl 2009 gaben die Wähler noch immer 47,4 Prozent ihrer Erst- und 36,3 Prozent der Zweitstimmen für die CDU ab. Frei, der sein OB-Amt für die Kandidatur aufgeben wird, müsste sich eigentlich keine Sorgen machen. Aber der Neuling im Kandidatenkreis hat ein ganz anderes Problem. Er kann nur hoffen, dass ihm wenigstens dieses eine Mal Fragen dazu erspart bleiben: dass der andere nicht schon wieder Thema wird – Siegfried Kauder.

Der „kleine Kauder“

In acht Monaten Wahlkampf verging kein Tag, an dem Frei nicht auf Kauder angesprochen wurde – den Nicht- und Jetzt-doch-Kandidaten und Gegner. Auch am Morgen vor der Schülerdiskussion hat Frei einem Radiosender bereits Rede und Antwort stehen müssen – nicht etwa zu seinen politischen Ideen. Es ging allein um Siegfried Kauder, bisher Abgeordneter im Deutschen Bundestag für den Wahlkreis 286, jahrelang unangefochten – und nun nicht mehr aufgestellt, weil Frei ihn Mitte November bei der Nominierungsversammlung vom Thron stieß. Nur, dass Kauder den Platz nicht frei geben will. Nun zieht er, obwohl Parteifreund, als unabhängiger Kandidat gegen Frei ins Feld. Dies könnte ihn nach CDU-internen Schätzungen bis zu zehn Prozent der Stimmen kosten. Der „kleine Kauder“ ist nun ein langer Schatten, der über dem Wahlkampf von Frei schwebt. Der Schatten Siegfried Kauders allerdings reicht noch weiter – bis nach Berlin, mitten in die Unionsfraktion und die heiße Phase des Wahlkampfs.

„Kleiner Kauder“, so nennen sie ihn hier, obwohl er mehr als einen Kopf größer ist als sein ein Jahr älterer Bruder Volker Kauder (63) – der mächtige Fraktionschef der Union im Bundestag und Vertraute der Bundeskanzlerin.

Was in Villingen die Würze im Bundestagswahlkampf ist, hat sich für die Union zu einer ziemlich explosiven Mischung entwickelt, die im Sommerloch besonders gut zündet. Da ist Siegfried Kauder, der Kohlhaas’sche Sturkopf aus dem Schwarzwald auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite ist der Mann für die Disziplin, Volker Kauder, ausgerechnet sein Bruder. Lang hat dieser geschwiegen. Jetzt hat Volker Kauder erklärt, dass er seinen kleinen Bruder aus der CDU entfernen lassen will, per Parteiausschlussverfahren. „Unabhängig von der Familienzugehörigkeit muss ich klar sagen: Das geht nicht“, lässt sich der Fraktionschef in Interviews zitieren. Die Rechtslage scheint eindeutig: Als Parteimitglied gegen einen nominierten Kandidaten anzutreten wird explizit als klassischer Ausschlussgrund genannt. Aber Parteiausschlüsse sind langwierig und nichts, was man im Wahlkampf gebrauchen kann. Die Parteigranden zieren sich. Sie wollen dem Abtrünnigen vor der Wahl keine weitere Bühne bieten. Das zuständige Parteigericht soll erst nach der Bundestagswahl am 22. September zusammenkommen.

„Wenn es darauf ankommt, halten wir zusammen“

Doch die Außenwirkung des Bruderzwists, sie bleibt fatal: In CDU-Kreisen ist schon lange bekannt, dass das einst innige Verhältnis der beiden abgekühlt ist. Mit den Eltern aus dem früheren Jugoslawien kamen sie nach Singen im Kreis Konstanz, wo der Vater Rektor einer Grund- und Hauptschule war. Nach dem Freitod des Vaters engagierten sich beide früh in der Jungen Union, hielten engsten Kontakt zueinander und hatten viele Gemeinsamkeiten. Sie studierten Jura und machten Karriere in der Politik. Doch der Ältere nahm oft mehrere Stufen auf einmal, während der Jüngere sich an der Basis abmühte.

Harmonie war trotzdem Pflicht: „Wenn es darauf ankommt, halten wir zusammen wie Pech und Schwefel“, hatte Siegfried seine Mitstreiter nicht nur einmal wissen lassen. Heute reden die beiden kaum noch miteinander. Volker Kauder beklagt sich immer öfter, er komme an den Bruder nicht mehr heran. Der war 2002 in den Bundestag gewählt worden und hatte sein Amt wie einen Erbhof gepflegt. Der Jurist war lange Zeit ein angesehener Rechtspolitiker, Vorsitzender des BND-Untersuchungs- und des Rechtsausschusses. Dass er von jenem Erbhof vertrieben werden könnte, wäre ihm grotesk erschienen. Als es dann doch geschah, sprach er von einem „Putsch“. Die erste Nominierungsversammlung war im Juli gescheitert. Daraufhin behauptete er, eine Wahlurne sei nie geöffnet worden.

Die Rolle des eigenwilligen Querkopfs

Die Wahrheit ist wohl eher, dass sich Kauder selbst aus dem Amt katapultiert hat. Die Geschichte mit der Urne verweisen die Parteifreunde ins Reich der Märchen. Sie berichten von einer monatelangen Schlammschlacht, die die Union im Schwarzwald vor eine Zerreißprobe gestellt hat. Es gab Hausverbot für die beliebte langjährige Geschäftsführerin, eine vor dem Parteigericht erzwungene Vorstandssitzung und eine zweite Nominierungsversammlung im November. Das Maß war für viele Mitglieder voll, als Kauder eine Schlichtung in der Partei unter Altministerpräsident Erwin Teufel als „Schwachsinn“ diskreditierte und den Fahrensmann düpierte, als er nicht zu dessen Pressekonferenz erschien.

Die Rolle des eigenwilligen Querkopfs füllt Kauder schon lange aus. Als er Ende November 2010 aufgrund von Terrorwarnungen in Deutschland die Presse zu Zurückhaltung in der Berichterstattung aufforderte, wurde ihm dies als Angriff auf die Pressefreiheit ausgelegt. Erst blockierte er mit merkwürdigen Argumenten im Rechtsausschuss lange die Unterzeichnung des Antikorruptionsabkommens der Vereinten Nationen, dann konnte es ihm nach viel Häme in der Presse mit der Paraphierung plötzlich nicht schnell genug gehen.

„Sie werden noch von mir hören“

In jüngerer Zeit war vielen Wegbegleitern eine Persönlichkeitsveränderung an Kauder aufgefallen. Sie berichteten verstört von Selbstherrlichkeit des beschäftigten Politiker und Juristen, der sich in der Opferschutzorganisation Weißer Ring, im Vorstand einer Behinderteneinrichtung sowie als Präsident des Fußballoberligisten FC 08 Villingen engagiert. Kauder, passionierter Marathonläufer, gilt als Workaholic, der oft bis tief in die Nacht arbeitet und auch an Weihnachten oder Silvester im Büro anzutreffen ist. War er überfordert? Beobachter berichten von einem Mann, der alle Ratschläge hinwegwischte und dessen eigenwillige Art von seinem Umfeld als inzwischen schon herrisch wahrgenommen wurde. Er selbst sehe sich zu Unrecht verfolgt und weise alle Ratschläge als bösartige Unterstellungen seiner Gegner zurück.

Als Kauder dann in der vergangenen Woche seine Einzelkandidatur verkündete, wurde dies in der Partei als abermaliger Affront verstanden – auch gegen Frei, den er zu seinem Gegner erklärt hatte. Seitdem ist der Wahlkreis 286 der am meisten beachtete der Republik und der „kleine Kauder“ eine ganz große Nummer.

Die Chancen auf Erfolg aber sind für Siegfried Kauder gering. Seit 1949 hat kein Kandidat mehr ohne die Nominierung einer Partei im Rücken den Einzug in den Bundestag geschafft. Den Querkopf aus dem Schwarzwald stört das nicht. Als er seine Kandidatur ankündigte, sagte er: „Die politischen Parteien haben nicht das Monopol, Kandidaten in die Bundestagswahl zu schicken. Mit der notwendigen Unterstützung von Befürwortern kann dies auch ein Einzelner.“ Zuvor hatte er bereits dunkle Andeutungen gemacht: „Sie werden noch von mir hören.“