Ein breiter gesellschaftlicher Disput ist notwendig, wenn deutsche und europäische Rechtsgrundsätze verschmolzen werden. Denn das muss sein, wenn auf Europaebene Volksabstimmungen möglich sein sollen.

Berlin - Das Beste am Grundgesetz sind die Artikel 1 bis 19, die Grundrechte eben. Die waren, jedenfalls zu Beginn einfach, klar und vorbildlich formuliert. Sie wurden zu einem deutschen Exportschlager. Wo sie heute schwer verständlich und kompliziert geworden sind, wurden die Grundrechte in den Folgejahren meist eingeschränkt. Beim Asylrecht ist das beispielsweise so. Wenn es um die Formulierung einer neuen Verfassung geht, stehen die heute bereits existierenden Grundrechte nicht zur Disposition.

 

Weiter hinten, vom Artikel 20 bis zum abschließenden Artikel 146, der den Weg für eine neue Verfassung weist, ist das Grundgesetz weniger bekannt, sehr kompliziert und in etlichen Bereichen auch nicht besonders überzeugend. Was der Bund darf, was die Bundesländer dürfen, was die Länder im Auftrag des Bundes tun müssen, was beide gemeinsam dürfen, vor allem aber, wer welche Steuern bekommt und wer was bezahlen muss, das ist trotz vieler Änderungen bis heute letztlich nicht befriedigend geregelt. Das ist vor allem höchst unübersichtlich. Die Dummen sind dabei oft die Kommunen, die im Grundgesetz ein bisschen zu kurz kommen. Eine neue Verfassung könnte, aus den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte schöpfend, hier mehr Klarheit schaffen.

Das Grundgesetz steht für Machtbeschränkung

Andererseits hat das Grundgesetz durch die sorgsame Austarierung der politischen Macht zwischen den demokratischen Institutionen entscheidend zur Stabilität der Bundesreplik beigetragen: Machtbeschränkungen, Machtverschränkungen, wechselseitige Kontrollen. Die starke Stellung des Bundesverfassungsgerichts gehört auch dazu. Das alles muss neu austariert, im Kern aber erhalten werden, wenn künftig Kompetenzen nach außen, nach Europa verlagert werden sollen.

Manches von dem, was im Grundgesetz steht, gilt vielen heute schon als verfassungswidrig – die Regeln beispielsweise, nach denen Konzerne, Grundeigentum und Bodenschätze sozialisiert werden dürfen. Das Grundgesetz legt zwar die soziale, keinesfalls übrigens die radikale Marktwirtschaft nahe, es schreibt aber keine bestimmte Wirtschaftsordnung vor. Gerade an diesem Punkt gibt es ein ganz massives Spannungsverhältnis zum europäischen Recht, das sich, anders als das deutsche Grundgesetz, auf die freie Marktwirtschaft festgelegt hat. Das könnte zu einem der Streitpunkte werden.

Soziale Grundrechte waren schon 1989 ein Thema

Andererseits schützt das Grundgesetz vor allem die Freiheitsrechte des Bürgers gegenüber dem Staat. Die sozialen Grundrechte sind im Vergleich dazu unterentwickelt. Als im Rahmen der deutschen Einheit über eine neue Verfassung diskutiert wurde, war dies einer der größten Streitpunkte. Die Unfähigkeit, sich hier zu einigen, war einer der tieferen Gründe, weshalb es damals beim Grundgesetz blieb. Die absurde Konsequenz daraus: Seit 2002 sind zwar die Arbeitsbedingungen der Legehennen und aller anderen Tiere vom Grundgesetz besonders geschützt, die Bedingungen, unter denen Arbeitnehmer in Deutschland tätig werden müssen, aber nicht. Es gibt nach wie vor kein Grundrecht auf Arbeit. Auch deshalb gibt es zwar das legendäre Verfassungsgerichtsurteil, das die Größen von Hühnerkäfigen regelt, aber noch keine Entscheidung über Mindestlöhne in Deutschland.

Es ist nicht das deutsche Grundgesetz, es sind die europäischen Grundrechte, vor allem ihre Auslegung durch den europäischen Gerichtshof, die auch deutschen Arbeitern inzwischen einen besseren Schutz gewähren – und sei es über Antidiskriminierungsrichtlinien. Der diskriminierte Arbeitnehmer bekommt sein Recht auf dem Umweg über Alter oder Geschlecht.

Über all diese Fragen wird in den kommenden Monaten ein breiter gesellschaftlicher Disput notwendig sein, bevor es zu einer neuen Verfassung kommen kann.