Nach der Mehrheit für Stuttgart 21 herrschen im Landtag gemischte Gefühle. Bei den Siegern im Ratskeller kennt der Jubel keine Grenzen - nur die Polizei bleibt gelassen.

Stuttgart - "Lügenpack, Lügenpack", skandieren sie mitten im Landtag. Diesmal sind es die Befürworter von S 21, die die lautstarken Kommentare abgeben. Gerade gibt Boris Palmer, der erklärte Gegner des Tiefbahnhofs, vor den Fernsehkameras den neuen Slogan aus. Der soll nach Palmers Willen den Kampfruf "oben bleiben" ablösen und fortan lauten "friedlich bleiben".

 

Abgesehen vom stets auskunftsfreudigen Palmer sind die Grünen recht einsilbig an diesem Abend, der ihre Erwartungen so gar nicht erfüllt hat. Nicht einmal in Stuttgart haben die Projektgegner die Oberhand behalten. "Doppelte Niederlage", kommentieren die im Landtag zahlreich vertretenen Befürworter von Stuttgart 21. Selbst in Stuttgart lagen die Projektgegner mit 52,9 Prozent vorn und trotz der höchsten Wahlbeteiligung von 67,8 Prozent wurde das Quorum nicht einmal in der Landeshauptstadt erreicht. Sichtlich geknickt, aber gefasst ist Hans-Ulrich Sckerl, der innenpolitische Experte der Grünenfraktion. "Das Ergebnis ist sehr eindeutig. Es spricht eine klare Sprache". Das einzige, was er noch Positives an diesem Ausgang finden kann: "Es ist ein guter Tag für die direkte Demokratie". Denn die Wahlbeteiligung hat sie alle überrascht, auch wenn sie einen anderen Ausgang erhofft hätten.

"Ende der Debatte"

"Wenn schon, denn schon", findet die grüne Staatsministerin Silke Krebs. "Das Verfahren war der richtige Weg, jetzt ist Ende der Debatte. Die Umfragen haben ja schon in die jetzige Richtung gedeutet." Den Ministerpräsidenten schwächt das Ergebnis nach Ansicht seiner Staatsministerin nicht. "Wenn einer verkörpern kann, dass er das Ergebnis vertritt, dann er". Das tut er auch. Winfried Kretschmann wird mit Applaus empfangen und spricht von einem großen Sieg für die Demokratie. Wolfgang Drexler, der Kämpfer für Stuttgart 21, beobachtet die Szene gemeinsam mit dem CDU-Abgeordneten Karl Zimmermann und beide finden die Aussage "etwas überzogen". Zimmermann hätte ja noch eine Tüte voller Aufkleber in der Taschen, nimmt dann aber doch davon Abstand, die Werbemittel der Gegner durch das Foyer regnen zu lassen.

Gelächter erntet Nils Schmid, der SPD-Landesvorsitzende und Projektbefürworter. Er steht neben Kretschmann vor den Kameras und erklärt "ich freue mich mit den Grünen über das klare Votum". Da habe er wohl die hohe Wahlbeteiligung gemeint, legt Drexler die Worte seines Vorsitzenden aus. Vergifteten Applaus gibt es auch für Kretschmann, als der erklärt, sein Verkehrsminister Winfried Hermann habe einen guten Job gemacht. Unter den Besuchern im Landtag sind die Gewichte klar verteilt. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Peter Hauk schwingt sich schließlich sogar auf einen Biertisch, um mit seinen Anhängern zu feiern. Aber den größten Applaus erntet FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke, als er fordert, der Verkehrsminister müsse zurücktreten. Der denkt nicht daran, "dem Land kann nichts besseres passieren, als dass es Leute gibt, die das Projekt kritisch begleiten", bricht Winfried Hermann eine Lanze für sein Haus und seine künftige Hauptaufgabe. "Das ist unser Verständnis von Demokratie. Wir wollten Beteiligung und wir werden das akzeptieren".

62 Prozent Wahlbeteiligung in Esslingen

Höhen und Tiefen erlebt Reinhard Hackl vom Verein mehr Demokratie im Laufe des Abends. Die ersten Meldungen signalisieren eine schwache Wahlbeteiligung. Da muss Hackl eine Schwächung seiner Bewegung vermuten. Doch mit jeder Stunde und jedem Ergebnis, das die Landeswahlleiterin an die weiße Tafel projizieren lässt, wird Hackls Stimmung besser. "Das Instrument Bürgerbeteiligung hätte Schaden nehmen können, wenn die Wahlbeteiligung gering gewesen wäre.

In mehrfacher Hinsicht gut gelaufen ist der Abend auch für Wolfgang Drexler, den einstigen Mister Stuttgart 21. Das Ergebnis ist ganz in seinem Sinne. Die Wahlbeteiligung ist in Esslingen mit mehr als 62 Prozent nach Stuttgart die höchste. "Das liegt natürlich an mir", sagt Drexler selbstbewusst, und wie aufs Stichwort kommt noch einer der Rathausoberen aus dem Landkreis Esslingen, drückt ihm die Hand und dankt Drexler ausdrücklich "für das, was sie für uns und für den Kreis getan haben". Zufrieden ist auch Martin Rivoir, der SPD-Abgeordneter aus Ulm: "Das Volk hat der Straße gezeigt, wo es lang geht".

Drei Schauplätze fürs Volk

Für das Volk gibt es an diesem Abend drei Schauplätze in der Stadt, an denen das Ergebnis der Abstimmung völlig unterschiedliche Reaktionen hervorruft. Neben dem Landtag, der nachts in gleißendem Licht liegt, sind dies das Rathaus und der Bahnhof. Als die Wahllokale schließen, beginnt die Polizei rund um den Landtag Gitter aufzubauen. Kurze Zeit später schaut das Opernpublikum, das sich in der Pause die Füße vertritt, erstaunt auf den Kulissenbau, der in aller Eile am Eckensee entstanden ist. Vor dem Haus, in dem an diesem Abend Fausts Verdammnis gegeben wird, hat sich die Polizei einen großen Parkplatz für ihre Mannschaftswagen reserviert.

Im Landtag ist es ein Abend der gemischten Gefühle. Die hohe Politik und ihre Gäste kann vom Foyer aus in einiger Entfernung den hell erleuchteten Daimlerstern sehen, der sich auf dem Turm jenes Gebäudes dreht, über dessen Zukunft abgestimmt wurde. Vor dem Haupteingang des Bonatzbaus haben sich Tausende von Projektgegnern versammelt, die an diesem Tag aus mehreren Gründen eng zusammenrücken. Es ist kalt, sie sind weniger als sie es sich insgeheim erhofft hatten. Und vor allem: die Abstimmung ist nicht nach ihrem Plan gelaufen.

Volker Lösch wettert

Auf der Bühne versucht der Kabarettist Peter Grohmann, aufmunternde Worte für harte Zeiten zu finden. Er liest ausgewählte Zwischenergebnisse aus einzelnen Wahlkreisen vor - vor allem jene, die mehrheitlich mit "Ja" gestimmt haben. Die Enttäuschung, dass es letztendlich nicht reichen wird, verabreicht er wohldosiert. Doch je länger die Reden vor dem Hauptbahnhof dauern, desto mehr verdichtet sich bei den Demonstranten, dass aus einer Vorahnung Gewissheit wird. Da und dort werden Wunderkerzen verteilt, die abgebrannt werden, aber der Funken springt in der Menge nicht mehr über.

Das Ergebnis verdaut jeder auf seine Weise. Der Theaterregisseur Volker Lösch wettert über "Mauscheleien, Tricks und Lügen" und versucht, ein Hintertürchen aufzustoßen, das dem Protest eine Zukunft bieten könnte. Lösch spricht vom "sogenannten Volksentscheid". Der oberste Parkschützer, Matthias von Herrmann, weiß noch nicht, wohin ihn dieser Abend noch führen wird. "Wir müssen schauen, wie die Stimmung der Leute ist", sagt er und fügt kryptisch hinzu: "Abreagieren ist Landtag." Das Adrenalin rauscht, nicht nur bei ihm. Seine Einlassung führt zu nichts, schon gar nicht zu einem Aufruf.

Die Enttäuschung ist still

Die Enttäuschung ist eher still in dieser Nacht, auch die Polizei hat zunächst nicht viel zu tun. Dabei war sie vorbereitet, auch darauf, dass sich der Frust entladen könnte. Für die Bundespolizei hat der Tag des Volksentscheids früh begonnen. Noch bevor die ersten Wahllokale öffnen, die Sonne aufgeht und die eiskalte Stadt langsam auftaut, spricht der Einsatzleiter Udo Peltzer darüber, was der Tag für die Beamten der Bundespolizei, die den Bahnhof sichert, bringen könnte. Es ist sieben Uhr, Pelzer steht vor einem eckigen Konferenztisch, an dem rund ein Dutzend Beamte vor ihren Laptops sitzen. Die Gesichter sind müde: "Zur Lage von heute ist Ihnen alles bekannt", sagt Peltzer. Dann redet er über die Teilnehmerzahlen der für den Abend angekündigten Demonstration und über die Einsatzstrategie. "Ob die Teilnehmer lange am Bahnhof bleiben oder bald zum Landtag ziehen, wissen wir noch nicht."

Peltzer, 48, ist ein Sicherheitsimport aus dem Rheinland. Er kommt aus Aachen, er hofft auf einen gelassenen Umgang mit den Demonstranten, die für ihn "vernünftige Leute" sind, "isch bin ganz andere Klamotten gewöhnt", sagt er jovial. Mit dem, was die Kollegen gerade bei den Castortransporten erlebten, lasse sich der Einsatz in Stuttgart nicht vergleichen. Auf einer Leinwand sind die Überwachungskameras aus dem Bahnhof zu sehen. Alles ruhig, allmählich taucht der Turm des Bonatzbaus aus grauem Dämmerlicht auf.

Peltzer blickt in die Runde, Kommunikationsmanager sind dabei - geschulte Beamte, die vermitteln sollen, wenn es zwischen Demonstranten und Polizei Konflikte geben sollte. "Wir müssen davon ausgehen, dass am Abend die Emotionen hochkochen könnten", sagt der Einsatzleiter. Unausgesprochen steht der "schwarze Donnerstag" im Raum, die Wunden sind nicht verheilt. "Noch Fragen?" Peltzer runzelt die Stirn. "Dann frohes Schaffen und einen schönen ersten Advent!"

Am Grundwassermanagement bleibt es friedlich

Nur wenig stört an diesem Sonntag zunächst die Besinnung. Es bleibt friedlich am Bahnhof, auch beim Grundwassermanagement, wo schon Montagfrüh um sechs Uhr wieder blockiert werden soll, wenn es nach dem Willen des SÖS-Stadtrats Hannes Rockenbauch gehen soll. Der Widerstand lebt, er ist nicht vorbei, das wird von der Bühne des Aktionsbündnisses herab nicht nur einmal beschworen. Ein Mantra.

Wer in dieser Nacht den Platz vor dem Bahnhof verlässt, am Landtag vorbeiläuft und schließlich das Rathaus betritt, der erlebt einen Temperaturschock. Und betritt eine andere Welt. Im Ratskeller steht die Luft. Hier treffen sich die Befürworter von Stuttgart 21 im Festsaal Herzog Eberhard3 - zweieinhalb Stunden nach dem die Wahllokale geschlossen haben, braucht man Ellenbogen, um am Jubel teilzuhaben. Immer wieder werden die neuesten Zahlen vorgelesen, auf dem Teppich hüpfen die Gäste, schwenken Fähnchen. Es ist tropisch schwül. Am Hauptbahnhof sagt Hannes Rockenbauch zu diesem Zeitpunkt, dass die halbe Stadt den Bahnhof nicht wolle. Im Ratskeller kümmert das keinen mehr. Die Luft ist bierschwanger, die Befürworter sind vom Erfolg berauscht. Irgendjemand sucht nach der richtigen Musik für diesen Moment. "We are the champions" von Queen - weniger darf es nicht sein.

Reaktionen aus dem Netz auch als Storify