Die neue Landesregierung will die Hürden für Volksentscheide senken. Doch steht das Schweizer Modell tatsächlich für mehr Demokratie?

Stuttgart - Die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 soll nach dem Willen der grün-roten Koalitionäre in Baden-Württemberg der Auftakt zu einer „neuen Politik auf Augenhöhe“ mit den Bürgern werden. Im Koalitionsvertrag haben sich Grüne und SPD zur Umsetzung dieses Ziels, zu mehr Bürgerbeteiligung durch direkte Demokratie verpflichtet. Nach diesen Plänen soll es auf Landesebene zukünftig möglich sein, den Landtag mit 10 000 Unterschriften zu verpflichten, sich mit einem „Gegenstand der politischen Willensbildung“ zu befassen. Die Hürde für landesweite Volksbegehren soll „deutlich abgebaut“, das Zustimmungsquorum bei Volksabstimmungen über Landesgesetze ganz entfallen und bei Verfassungsänderungen gesenkt werden. Auch Bürgerbegehren und Bürgerentscheide auf kommunaler Ebene will Grün-Rot erleichtern.

 

Dieser Politik liegt die These zugrunde, das europäische Modell der repräsentativen Demokratie, wie es in der französischen Revolution erstmals versucht und von der amerikanischen Verfassung vollendet wurde, leide an einem Mangel an demokratischer Legitimation, der durch plebiszitäre Elemente beseitigt werden kann.

Ein Blick in die Schweiz, das Mutterland der direkten Demokratie, scheint diese Ansicht zu bestätigen. Dort können 100 000 Stimmberechtigte durch eine Volksinitiative einen Volksentscheid über eine Verfassungsänderung oder die Totalrevision der Verfassung verlangen. Für die Änderung einfacher Bundesgesetze reichen in der Volksinitiative 50 000 Unterschriften. Auf kantonaler Ebene geht es noch viel einfacher. In der Schweiz gibt es weder auf kantonaler Ebene noch auf Bundesebene ein Abstimmungsquorum für Volksabstimmungen. Es reicht die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Verfassungsänderungen oder der Beitritt des Landes zu internationalen Organisationen wie der Europäischen Union sind dem Volk immer zur Abstimmung vorzulegen.

Die Schweiz hat eine Konsensdemokratie

Warum hat sich gerade die Schweiz für dieses Modell entschieden? Und ist es demokratischer als die repräsentative Demokratie? Bei diesen Fragen sollte man zuerst die historisch begründete Einmaligkeit bei der Entstehung des Schweizer Modells in den Blick nehmen. Die Schweiz ist bis heute weder ethnisch noch sprachlich noch kulturell oder konfessionell eine Einheit. Sie versteht sich als eine „Willensnation“, die allein durch den Willen ihrer Bürger zusammengehalten wird. Die Schweiz ging aus spätmittelalterlichen Verteidigungsbündnissen hervor. Hieraus entwickelte sich zunächst ein Staatenbund, der am Ende des Dreißigjährigen Kriegs im Westfälischen Frieden von 1648 erstmals eine Art völkerrechtlicher Anerkennung erfuhr, bis sich schließlich 1848 die souveränen Kantone zu einem Bundesstaat zusammenschlossen. Der Bundesstaat nahm den Kantonen allerdings nur so viel an Souveränität, als für sein Funktionieren unbedingt erforderlich war. So ist es bis heute.

Eine weitere Besonderheit des Schweizer Modells ist die sogenannte Konkordanz- oder Konsensdemokratie. Damit wird ein Typus der Volksherrschaft bezeichnet, der darauf abzielt, eine möglichst große Zahl von Akteuren (Parteien, Verbände, Minderheiten, gesellschaftliche Gruppen) in den politischen Prozess einzubeziehen und Entscheidungen durch Herbeiführung eines Konsenses zu treffen.

Das Gegenmodell zur Konkordanzdemokratie wird als Konkurrenzdemokratie oder Mehrheitsdemokratie bezeichnet. Dieses System kennen etwa Deutschland, Frankreich, England oder Italien.

Es gibt keinen Regierungschef, der die Richtlinien bestimmt.

Nach dem Schweizer Modell der Konkordanzdemokratie sind alle sieben Mitglieder der Regierung, sie heißen in der Schweiz Bundesräte, gleichberechtigt. Durch interne Mehrheitsentscheidungen wird die Regierungspolitik bestimmt. Einen Regierungschef, der wie die deutsche Kanzlerin die „Richtlinien der Politik“ bestimmt, kennt die Schweiz nicht. Hierzu gehört auch, dass die Regierung von allen wichtigen im Parlament vertretenen Parteien gewählt wird. Seit 1959 gilt die sogenannte Zauberformel, nach der die drei stärksten Parteien je zwei Regierungsmitglieder stellen. Die viertstärkste Partei bekommt einen Regierungssitz. Die Zauberformel wurde erstmals im Jahr 2003 von der damals erstarkten rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) des Christoph Blocher infrage gestellt. Nach den Wahlen im vergangenen Jahr forderte die SVP als erneut stärkste Fraktion zwei Ministerposten, was am Widerstand der anderen Parteien scheiterte. Mit der Durchsetzung eines zweiten Regierungssitzes wollte die SVP auch die Wiederwahl der Finanzrätin Evelyn Widmer-Schlumpf vereiteln, die im Jahr 2007 nach ihrer Wahl als SVP-Bundesrätin im Streit mit dem Parteichef Blocher, der damals nicht erneut zum Bundesrat gewählt wurde, aus der Partei austrat und die Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP) gründete. Als deren Vertreterin sitzt sie nun in der Regierung. Die SVP agiert seitdem wie eine Oppositionspartei, die gleichzeitig in der Regierung sitzt. Es droht „ein Zerbrechen des Schweizer Modells“, titelte die „Financial Times“.

Neue politische Bewegungen, etwa die Grünen, die seit den frühen 90er Jahren im Parlament vertreten sind, haben wegen der Zauberformel bisher keinen Regierungsposten erhalten. Nach der Wahl des Jahres 2011 repräsentiert die Regierung 78,1 Prozent der abgegebenen Stimmen. Opposition nach bundesdeutschem Verständnis sind nur die Grünen, die zuletzt 8,4 Prozent der Stimmen erhielten. Da alle im Bundesparlament vertretenen großen Parteien auch Regierungsparteien sind, gibt es faktisch keine parlamentarische Opposition. In diesem System der fehlenden wirksamen parlamentarischen Kontrolle sind die ausgeprägten Elemente direkter Demokratie ein notwendiges Korrektiv. Anders gesagt: die Schweiz ohne das Korrektiv der Volksabstimmungen liefe Gefahr, sich in einen autoritären Parteienstaat zu verwandeln.

Direkte Demokratie birgt auch Probleme

Was kann man daraus für Baden-Württemberg lernen? Hier ist die Ausgangssituation eine völlig andere. Durch Wahlen können Wähler mehr bewirken, als nur die Anzahl der Sitze innerhalb der Regierung zu verändern. Regierungen können hier abgewählt werden, und andere parlamentarische Mehrheiten können eine völlig neue Politik gestalten. Die jüngste Landtagswahl ist das beste Beispiel hierfür.

Außerdem sollte man nicht übersehen, dass die direkte Demokratie bis jetzt nicht gelöste Probleme mit sich bringen kann. Manche haben sich schon bei der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 gezeigt. Das erste Problem ist die Frage der Finanzierung. Es kann für den Ausgang eines Volksentscheides ausschlaggebend sein, wer mehr Geld in die Kampagne pumpen kann. Nach Recherchen des Vereins Mehr Demokratie hatten die Gegner von S 21 deutlich weniger Geld für ihre Werbung zur Verfügung als die Befürworter, zu denen die Bahn, die Stadt Stuttgart und die Region gehörten. Noch ungeklärt ist, wie man verhindern will, dass Volksentscheide zum Spielball finanzstarker Lobbygruppen werden. Durch Spendenbegrenzungen und Offenlegungspflichten kann man zwar versuchen, den Finanzierungswildwuchs zu beschneiden. Völlig verhindern kann man ihn nicht.

Oder: wollen wir wirklich, dass uns die „Bild“-Zeitung eine Kampagne gegen den angeblichen Sozialhilfebetrüger Florida-Rolf oder gegen die Eurorettung durch Volksbegehren und Volksentscheide aufs Auge drückt? Oder die NPD eine Kampagne für die Todesstrafe gegen Kinderschänder? Gerade die Schweiz lehrt uns, dass die direkte Demokratie von Populisten genutzt werden kann. Auch hier fehlen in der aktuellen Diskussion noch Vorschläge, wie damit umgegangen werden soll.

Und: welche Rolle sollen in diesem System zukünftig die Parteien spielen? Dürfen oppositionelle politische Parteien mit dem Einsatz von Volksbegehren und Volksentscheiden parlamentarische Mehrheiten aushebeln und der Regierung einen Gesetzentwurf der Opposition aufzwingen? Wer trägt für die Umsetzung eines so durchgesetzten Gesetzes die politische Verantwortung? Überspitzt gefragt: sollen bibeltreue Christen die grün-rote Landesregierung durch einen Volksentscheid zur Wiedereinführung der Konfessionsschule zwingen dürfen? Muss die Regierung bei einem erfolgreichen Volksentscheid als gescheitert zurücktreten?

Nur Mittelfeld im Demokratie-Ranking

Und: wie soll der Minderheitenschutz gewährleistet werden? Was, wenn es auch hier ein per Volksentscheid herbeigeführtes europarechtswidriges Minarettverbot geben sollte? Oder die Verpflichtung, Ausländer nach der ersten Vorstrafe abzuschieben? Fragen, die in der Schweiz noch nicht beantwortet wurden. Schließlich sollte man nicht vergessen: bei Volksentscheiden setzen sich meistens konservative Themen durch. Auch das lehrt uns die Schweiz.

Die Universität Zürich kam in einem Demokratie-Ranking im Januar 2011 zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass die Schweiz in einem Vergleich von 29 Ländern nur auf dem 14. Platz landet. Deutschland nahm immerhin den elften Platz ein. Die Untersuchung benennt zwei große Probleme für die Demokratie in der Schweiz. Das eine sei die fehlende Beteiligung der ausländischen Bevölkerung. Im internationalen Vergleich sei die Schweiz hier am restriktivsten. Aber fast noch gravierender sei, dass in der Schweiz die Wahl- und Abstimmungsbeteiligung seit Jahren bei 40 Prozent liege. Zudem gingen laut der Untersuchung mehrheitlich Wohlhabende, Ältere, Gebildete und überproportional viele Männer zur Wahl. Diese Mängel kennen wir auch aus Deutschland. Die Hoffnung auf eine Lösung durch mehr Volksbeteiligung scheint sich jedoch bei Betrachtung der Tatsachen nicht zu erfüllen.

Andererseits hat eine richtig umgesetzte direkte Demokratie auch unbestreitbare Vorteile. Die Bürgerschaft wird politisiert. Die Regierung wird gezwungen, die Bevölkerung frühzeitig in wichtige Entscheidungen einzubinden. Das Wahlvolk wird deshalb besser über die Themen informiert werden, über die es dann entscheidet. Schließlich kann die Bevölkerung zu politisch umstrittenen Projekten eine „Schlussentscheidung“ treffen. Im Idealfall beendet dies einen langen Streit. Nicht zu vergessen ist der Befriedungseffekt, der sich besonders nach der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 gezeigt hat.

Über die Chancen, aber auch die Probleme direkter Demokratie muss in den kommenden Monaten offen diskutiert werden. Bisher scheinen die Koalitionspartner in Baden-Württemberg hauptsächlich die Vorteile der direkten Demokratie zu sehen, während die CDU reflexhaft nur auf Gefahren hinweist. Dieses alte Lagerdenken schadet der Sache. Man sollte stattdessen vorurteilsfrei darüber reden, was wir für das neue Gesetz aus der Erfahrung der Schweiz, aber auch anderer Staaten mit direkter Demokratie übernehmen wollen, und was nicht. Der Landtag hat noch die ganze Legislaturperiode vor sich. Dies ist genügend Zeit, um aus den Lagern auszubrechen und ein wirklich zukunftsweisendes Gesetz zu beschließen.

Politik Die grün-rote Landesregierung, allen voran Ministerpräsident Winfried Kretschmann, will die Bevölkerung stärker an Entscheidungsprozessen beteiligen. Der Grüne Roland Kugler unterstützt es, warnt aber vor Schnellschüssen und davor, unüberlegt die Regelungen der Schweiz zu übernehmen.

Autor Roland Kugler, Jahrgang 1952, saß in den Jahren von 1984 bis 1989 und von 1994 bis 2009 für die Grünen im Gemeinderat von Stuttgart. Seine Erlebnisse als Stadtrat hat er in dem Krimi „Der Filderpate“ verarbeitet.

Justiz Der Rechtsanwalt betreibt in Stuttgart eine Kanzlei und ist besonders auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts mit den Schwerpunkten Ausländerrecht und Umweltrecht sowie als Strafverteidiger tätig. Er ist Autor zahlreicher juristischer Fachbücher. dud