Flughäfen sind in Berlin Herzenssache. Die Tage von Tegel schienen gezählt – nun stehen die Berliner vor einem Volksentscheid über den Weiterbetrieb. Die Zustimmung ist wahrscheinlich. Das wird die Schließung aber kaum verhindern.

Berlin - Neulich hatte Berlin mal wieder richtig Glück, und das gleich zwei Wochen lang. So lange hat es gedauert, das dicke, alte Seekabel zu reparieren, das den Flughafen Tegel mit Strom versorgt. Der große Regen von Ende Juni hatte das ohnehin schon poröse Kabel, ein Relikt der Alliierten aus den Siebzigern, vollends geliefert. Und so hing der Hauptstadtflughafen 14 Tage lang via Ersatzkabel an einem einzigen, genauso alten Stromkreis. „Wenn auch nur das Geringste passiert wäre, hätte der Flughafen einfach stillgestanden“, sagt Ralph Struck. Es ist aber gut gegangen.

 

Das muss es am Flughafen Tegel ziemlich oft. „Wir kommen hier regelmäßig an die Grenze des Möglichen“, sagt Struck. „Meine Kollegen werden immer nervöser, weil immer mehr ausfällt und die Zahl der Reparaturen steigt.“ Ralph Struck ist der Chefhausmeister hier, Leiter Facility Management. Der baumlange Mann im Anzug steht an diesem Morgen in der Leitzentrale der riesigen Flughafenwabe.

Wer hier reinkommt, der fühlt sich wie von einer Zeitmaschine ausgespuckt. Wände und Leitstand sind in 70er-Jahre-Brauntönen gehalten, die Armaturen, hinter denen die Mitarbeiter sitzen, erinnern an die der Trickfilmfigur Homer Simpson im Atomkraftwerk Springfield. Ein Warnton unterbricht Struck. Irgendwas ist immer. Mal zickt die Stromversorgung, dann funktionieren die Rechner nicht, die Lüftung streikt, ein Rohr platzt, 18 000 solcher Störungen im Jahr werden registriert, die Zahl steigt und steigt. Ralph Struck kann Besucher stundenlang durch seinen Flughafen führen, um nachzuweisen: Das hier kann so nicht mehr lange gut gehen.

Beim Thema Flughafen zählen Argumente kaum

Wie kann das sein? Warum saniert man nicht mal ordentlich? Es gab eine Zeit, da war die Antwort auf diese Frage sehr einfach: weil dieser Flughafen sowieso demnächst geschlossen wird. So ist es längst geplant, abgestimmt, beschlossen. Die Länder Berlin, Brandenburg und der Bund bauen am Südrand der Stadt den neuen Großflughafen BER, um die alten Innenstadtflughäfen abzulösen, sie werden geschlossen, sobald der neue Flughafen läuft.

Aber jetzt scheint in dieser Frage gar nichts mehr klar zu sein. Die Berliner streiten einmal mehr mit Leidenschaft über eines ihrer Lieblingsthemen, die Flughäfen. Die sind traditionell Herzensangelegenheit – vielleicht liegt es an der einstigen Insellage, dem tief verinnerlichten Gefühl, dass Flugzeuge Mauern lässig überwinden, vielleicht daran, dass die Stadt während der Blockade von 1948 eine Zeit lang nur über die Luft versorgt werden konnte. Die Emotionen schießen hoch. Und Sachargumente haben es schwer. Geht es um Flughäfen, dann ist es, als schalte die Stadt ihr Gehirn auf Autopilot.

Dazu kommt das ungelöste Hauptproblem Berlins – vor den Toren in Schönefeld liegt die unerklärliche Riesenbaustelle des BER. Fünf Jahre ist es her, dass er hätte eröffnet werden sollen. Wäre das passiert, dann würde heute kein Mensch mehr über den Flughafen Tegel reden. Es ist aber nicht passiert. Und auch jetzt, fünf Jahre später, gibt es keinen Termin für die Eröffnung.

Aus dieser wilden Mischung von BER-Chaos und Flughafenliebe können Populisten Funken schlagen. Und so ist zu erklären, dass am 24. September, während der Rest der Republik den Bundestag wählt, die Berliner sich zudem in einem Volksentscheid fragen: Soll Tegel offen bleiben?

Eine Milliarde Argumente

Es gibt dagegen viele Argumente – eine Milliarde mindestens. Eine Milliarde Euro würde allein die nötige Sanierung Tegels kosten, so rechnet Engelbert Lütke-Daldrup, Geschäftsführer der Flughafengesellschaft Berlin Brandenburg vor, die Hälfte davon für die Gebäude, etwa 200 für die Netze, den Rest für die Start- und Landebahnen. „Wir rücken einem Totalausfall immer näher“, sagt er in allergrößer Technokratenruhe. Der Flughafen ging 1974 in Betrieb, er war damals für sieben Millionen Menschen ausgelegt, inzwischen fliegen hier 21 Millionen Passagiere im Jahr, und in den vergangenen Jahren wurde immer nur das saniert, was ganz dringend nötig war – für etwa fünf bis acht Millionen Euro pro Jahr.

Lütke-Daldrup sagt, wolle man den Flughafen sanieren, müsste man ihn bis auf den Rohbau entkernen. Es gälten heutige Bestimmungen und Standards für die Baugenehmigungen. Viele Anlagen wären heute nicht mehr genehmigungsfähig. Ein Beispiel ist die Sprinkleranlage mit ihren 4000 Köpfen. Im BER sind es knapp 80 000. Dass bei so einer Sanierung einfach weitergeflogen werden kann, erscheint unwahrscheinlich. Und mit schlafenden Flughafenbaustellen hat man in Berlin keine guten Erfahrungen.

In keiner europäischen Großstadt seien so viele Menschen wie hier von hartem Fluglärm belastet, argumentiert die Wirtschaftssenatorin Ramona Pop – 300 000 Berliner leiden unter Tegel, ihnen ist die Schließung versprochen, viele haben auf dieser Grundlage ein Haus gebaut oder gekauft. Wirtschaftsexperten glauben, dass der Weiterbetrieb sich nicht rechnet. Zu den Sanierungskosten kämen Kosten für den Lärmschutz der Anwohner – dafür wird mit 400 Millionen Euro gerechnet. Jährlich, so schätzt die Betreibergesellschaft, würden die zwei Standorte 100 bis 200 Millionen Euro mehr Aufwendungen für den Betrieb verschlingen. Dabei ist Tegel nicht für die heute üblichen großen Maschinen gebaut.

Dröhnen in den Ohren jeden Abend

Auch wenn die Befürworter eines Weiterbetriebs argumentieren, dass andere große Städte wie London oder Paris zwei Flughäfen hätten, so vergleichen sie Regionen mit mehr als doppelt so vielen Einwohnern wie Berlin. Außer in Megacitys seien zwei Flughäfen gleichzeitig nicht wirtschaftlich zu betreiben und müssten öffentlich subventioniert werden, sagt nicht nur Berlins grüne Wirtschaftssenatorin Ramona Pop, sondern auch der Präsident des deutschen Flughafenverbands ADV, Michael Garvens. Sie sehen zwar ein Problem in der begrenzten Kapazität des BER, die schon jetzt zu gering scheint, glauben aber, dass eine Erweiterung die einzige Lösung wäre.

Die Berliner Wirtschaft will den Flughafen nicht behalten

Selbst die Berliner IHK und die Unternehmerverbände lehnen es ab, Tegel auf Dauer offen zu halten. Die Wirtschaft, die nun in der Hauptstadt endlich boomt, sucht händeringend nach Flächen. In Tegel stehen seit Jahren entsprechende Pläne, mit denen alle kalkuliert haben: Die Beuth-Hochschule soll ins Terminal A umziehen, rundherum entsteht ein großer Industriepark, dazu sollen 5000 Wohnungen kommen.

Zu all diesen Argumenten kommt ein gewaltiges juristisches Risiko. Denn die Schließung von Tegel war und ist die rechtliche Voraussetzung für den BER. Im vom Bundesverwaltungsgericht bestätigten Planfeststellungsbeschluss von 2006 heißt es, dieser stehe „unter dem Vorbehalt der endgültigen Schließung der Flughäfen Tempelhof und Tegel spätestens nach einer Übergangszeit von sechs Monaten“. Wenn also Tegel einfach offen gehalten würde, dann würden beide Flughäfen wackeln. Klagen wären sicher. Tegel selbst hätte dabei noch nicht einmal eine Betriebsgenehmigung, die ist längst widerrufen. Denn der Flughafen wurde 1974 in der geteilten Stadt unter Besatzungsrecht genehmigt. Das existiert heute nicht mehr. Ein neues Planfeststellungsverfahren wäre nötig – das dauert Jahre, und der Ausgang ist ungewiss.

Ein innerstädtischer Flughafen wie Tegel würde heute wegen der Lärmbelastung und der Gefahr für die Stadtbewohner kaum genehmigt. Dass trotzdem überhaupt abgestimmt wird, liegt an der Sache mit den Emotionen. Es war die Berliner FDP, wegen Erfolglosigkeit in der letzten Wahlperiode nicht im Parlament vertreten, die für den Wahlkampf 2016 nach einem Thema suchte und es fand. Ein Volksbegehren zum geliebten Flughafen Tegel war für die Partei die Landebahn ins Abgeordnetenhaus. Und die CDU ist lernfähig.

Sie flog 2016 aus der Regierung und muss ihre Oppositionsrolle gegen Rot-Rot-Grün finden – Tegel eignet sich für die Klientel, die im Westen, Südwesten und Norden der Stadt wohnt. Per Mitgliederbefragung ließ die Union entscheiden, dass Tegel offen bleiben soll. Dabei ist niemandem in der Partei peinlich, dass die CDU viele Jahre an allen maßgeblichen Flughafenentscheidungen beteiligt war. Und auch andere politische Spieler, so wie zum Beispiel Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU), der immerhin den Anteilseigner Bund repräsentiert, gefallen sich darin, immer mal wieder zu sagen, dass es doch toll wäre, könnte Tegel offen sein.

Die außerparlamentarische FDP hob das Thema aus Tapet

Populismus also heißt offensichtlich das Gebot der Stunde – und dazu passt, dass die Abstimmung am Ende keine für das Parlament bindende Wirkung hat. Man hätte sie so formulieren können, in Berlin gab es solche Volksentscheide schon. Aber die Initiatoren haben sich für eine wachsweiche Aussage entschieden, die allenfalls politischen Druck entfaltet – und sich am Ende nicht mit der Frage auseinandersetzt, wie realistisch die Forderung ist.

Glaubt man den Umfragen, werden die Berliner Ja zur Offenhaltung sagen. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) wird also der Verlierer sein und kann zurzeit wenig dagegen tun. Er nannte den Volksentscheid kürzlich eine „politische Falle“. Wie will er sie umgehen? „Die Welt wird am 25. September die gleiche sein wie am 24. September“, sagt er dazu. Genaueres? Es ist offen, wie viel Druck die Koalition, wie viel Müller in seiner SPD dann aushalten kann.

Hoffentlich bleibt er standhaft, denken sich Menschen wie Martina Scherf. Die 65-Jährige sitzt an diesem Nachmittag in ihrer Wohnung in Pankow, direkt in der Einflugschneise. Seit 15 Jahren wohnt sie hier, vor sechs Jahren hat sie die Wohnung gekauft – kurz bevor die Eröffnung des BER verschoben wurde. „Ich fühle mich verraten“, sagt Scherf. „Was mich am meisten ärgert ist, dass die Leute einfach ihr Kreuz bei Offenhalten machen werden, weil sie glauben, das ist für sie am bequemsten. Und die Fakten interessieren sie nicht.“

Wenn Martina Scherf an Wochenenden mit ihrer Bürgerinitiative für die Schließung Tegels einen Infostand aufstellt, dann spürt sie den Druck derer, die hier wohnen. „Die rennen einen praktisch um vor Freude.“ Mit den Jahren ist die Zahl der Flugzeuge größer, der Lärm immer schlimmer geworden. „Am Abend kommen sie im Minutentakt, bei der Landung seh ich den Piloten.“ Die Doppelkastenfenster sind dicht verschlossen. Martina Scherf will nicht aufgeben, auch nicht nach der Abstimmung. „Ich bin an dem Punkt, an dem ich sagen muss: Wenn sie den Flughafen nicht dichtmachen, dann kann ich hier nicht alt werden.“