Die vernetzte Welt verändert mit ihrem Informations-Overkill auch die Lesekultur: Die Romane werden immer kürzer – und wecken bei der Generation Facebook aber gleichzeitig die Sehnsucht nach dem dicken Wälzer.

Stuttgart - Auf Buchmarkt ist derzeit eine merkwürdige Spreizung zu beobachten. Auf der einen Seite werden die Romane immer kürzer, fahriger und kleinmütiger: Newcomer wie Heinz Helle („Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin“), Fabian Hischmann („Am Ende schmeißen wir mit Gold“), Matthias Nawrat („Unternehmer“) oder Doree Elmigeroth („Schlafgänger“) erzählen auf kaum hundert luftigen Seiten von Träumern und Grüblern mit schwachen sozialen Bindungen und starkem Reflexionsdrang. Zugleich gibt es aber auch immer mehr Megaromane, die ihren Lesern – besser wohl: Käufern – Distinktionsgewinne und große Weltentwürfe versprechen.

 

Der schiere Umfang gilt hier als Zeichen von Bedeutung und garantiert jedenfalls mediale Aufmerksamkeit. Frank Schätzings „Breaking News“ (976 Seiten) und Donna Tartts „Distelfink“ (1024) stehen weit oben in den Bestsellerlisten. In den letzten Jahren verkauften sich Dickschiffe wie Jonathan Littells „Wohlgesinnte“, Roberto Bolaños „2666“ und Haruki Murakamis „1Q84“ erstaunlich gut, David Foster Wallaces 1547-Seiten-Wälzer „Unendlicher Spass“ sogar über 100 000 Mal. In Deutschland sind Riesenwerke wie Uwe Tellkamps „Turm“ oder Jan Brandts „Gegen die Welt“ selten, aber aus den USA, wo die Autoren traditionell zum Größenwahn neigen, kommen ständig neue Super- und Überromane von Großschriftstellern wie Thomas Pynchon, Jonathan Franzen, Jeffrey Eugenides oder auch Außenseitern wie William H. Gass („Der Tunnel“) und William T. Vollmann („Europe Central“). Große Themen wie Nazideutschland und der Zweite Weltkrieg erfordern große Romane: Thomas „Der Zauberberg“ und Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ waren ja auch nicht eben schmalbrüstig.

Mit begrenzten Ressourcen: das analoge Ich

Der Trend zu sehr kurzen und der Hype um die sehr dicken Romane gehören zusammen. In der vernetzten Welt, im endlosen Strom der Daten, Videos und Facebook-Statusmeldungen verändert sich auch die Schreib- und Lesekultur. Man muss nicht gleich, wie manche Kulturkritiker, von „digitaler Demenz“ reden, aber das Dauerbombardement durch Liveticker, Twitter und E-Mails führt, wie der Medientheoretiker Douglas Rushkoff in „Present Shock“ gerade gezeigt hat, zu einem „narrativen Kollaps“: Wenn alles gegenwärtig und simultan verfügbar ist, überfordert dieser Informationsoverkill das analoge Ich mit seinen begrenzten Ressourcen an Aufmerksamkeit und Konzentration. Der Generation Facebook fehlt es heute offenbar an der Geduld, um Gedanken, Figuren und Handlungsbögen bis ans Ende zu verfolgen.

Zeitgemäßer als der klassische Gesellschaftsroman, schrieb Zoë Tannenbaum kürzlich im Onlinemagazin „Quemeda“, sind deshalb Formen der Kurz- und Kürzestprosa: Geschichten, die mit der Tür ins Haus fallen, Thriller, die gleich auf der ersten Seite mit einem Mord aufwarten, nervöse, autistische Selbstbespiegelung, Diskursbrocken und Poesiekonzentrate. Die „großen Erzählungen“, in denen wir uns über Politik, Religion und Gesellschaft verständigten, werden verdrängt durch kleine, schnellere, nichtlineare Erzählformen, das postmoderne Spiel mit Optionen. Aber eben darum sehnen sich die Digital Natives auch nach etwas, das größer, nachhaltiger, bewegender, „authentischer“ ist als das Zwitschern und Flackern der Monitore. Müde des Surfens und Zappens, träumen sie von dem großen Wurf, der die Splitter einer derealisierten Wirklichkeit noch einmal zusammen setzt. Nicht zufällig boomt derzeit der Familienroman.

Intensivere Reize, schnellere Schnitte

Der europäische Roman hat schon immer die neuen Erzählweisen konkurrierender Medien integriert. Was einst der Briefroman oder im 20. Jahrhundert die filmischen Erzähltechnik war, sind heute die E-Mail-, SMS-, Twitter- oder Blogromane. Michael Rubin beschreibt in „From Hemingway to Twitterature“, wie die erhöhte Drehzahl und verminderte Halbwertszeit literarischer Fiktionen immer kürzere Erzählformen, intensivere Reize und schnellere Schnitte hervor bringen. Rudin analysiert fünf Sorten von „Twitterature“, von der „Nanofiction“ bis zu Graphic Novels, Handyromanen und Streaming-Modellen. Allen gemeinsam ist die Auflösung des klassischen Werkbegriffs. Romane sind heute nicht mehr Hardware, sondern Software: Sie legen die Quellcodes ihrer Entwicklung offen und können, in Echtzeit, modular und interaktiv, jederzeit und überall aktualisiert und kombiniert, geteilt und kommentiert werden.

Die intimen Zwiegespräche zwischen Autor und Leser sowie traditionelle Vermittlungsinstanzen wie Verlag, Lesung oder Literaturkritik werden dabei durch neue Formen der Distribution und Rezeption von Literatur abgelöst: durch Self- und E-Publishing, durch Poetry Slams und Social Reading, einer Art Lesekreis 2.0. In der digitalen Event- und Spektakelgesellschaft müssen sich nicht nur die Schriftsteller kürzer fassen und schneller auf den Punkt kommen. Der Zwang zur Beschleunigung kultureller Kommunikation hat längst auch den Zeitungsjournalismus, Film und Fernsehen erfasst. Selbst im bildungsbürgerlichen Bollwerk namens Theater werden überlange Klassiker heute auf knackige siebzig Minuten eingedampft oder zu postdramatischen Projekten eingestampft.

Hype um dicke Wälzer

Genau diese hektische Kurzatmigkeit lässt den Wunsch nach einem längeren epischem Atem wachsen: große Erzählungen statt kleinteilige, kleinmütige Fragmente, Slow Reading, physische Nah- und Gemeinschaftserlebnisse statt einsamer Nächte im Netz. Deshalb versammeln sich Menschen zum Public Viewing, ziehen sich in langen Nächten endlose Fernsehserien auf DVD rein und diskutieren auf Plattformen wie Lovelybooks, Goodreads oder Sobooks solche Monsterromane wie „2666“ oder „Unendlicher Spaß“. Für die Beschreibung ihrer heroischen Seh- und Leseerlebnisse greifen die Blogger, Follower und Amazon-Kritiker gern auf Begriffe wie „Kampf“ und „Gipfelsturm“ zurück: Durchhalten und gegenseitiges Anfeuern ist, wie beim Volksmarathon, alles. Und wer es bis ins Ziel schafft, darf sich als Mitglied einer Elite fühlen – und sich für unbezahltes Guerilla-Marketing benutzen lassen.

So nährt ausgerechnet der Siegeszug der schwindsüchtigen E-Book- und Twitterliteratur den Kult um die Großromane, die im Bücherregal mehr hermachen als im Kindle. Den narrativen Kollaps der Helles und Hischmanns kann man notfalls unterwegs auf dem Smartphone weg lesen, „Unendlicher Spass“ aber lässt sich nicht in bushaltestellentaugliche Häppchen zerlegen. Je dicker der Roman, desto mehr sperrt er sich gegen seine digitale Verflüssigung und Verflüchtigung – und so schlägt Quantität in eine Qualität für sich um.