Wie mag sich eigentlich ein Redner auf dem Kirchentag fühlen, der mit sehr wenig Publikum rechnen muss? StZ-Kolumnist Erik Raidt war morgens bei der Bibelarbeit und erlebte eine Überraschung.

Stuttgart - Es war morgens um kurz nach neun, als ich mit Frau Dr. Hutflötz bangte. Um ehrlich zu sein: ich befürchtete, ihr könnte das Schlimmste bevorstehen, zumindest das Schlimmste, was einem passieren kann, wenn man auf einer ziemlich geräumigen Bühne auftritt – dieser Albtraum sieht so aus, dass du selbst oben stehst, ein Scheinwerfer auf dich gerichtet ist, der Veranstalter steht unbequem hüstelnd neben dir, und wenn du die Augen gegen das grelle Licht zusammenkneifst, siehst du sofort, warum es den Mann so im Hals kratzt: Der Saal vor dir ist leer.

 

Die Ausgangslage für Frau Dr. Karin Hutflötz schien mir an diesem Donnerstagmorgen denkbar ungünstig zu sein: Ihre Veranstaltung war im 620 Seiten dicken Programmheft des Kirchentags nur mit drei dürren Zeilen angekündigt worden. Sie fand im Gloria-Kino in der Innenstadt statt, einem vollklimatisierten dunklen Saal, der um neun Uhr in der Früh mit einem auf 25 Grad bereits gut vorgeheizten Schlossplatz konkurrieren musste. Frau Hutflötz war im Programmheft als Philosophin von der Akademie der Bildenden Künste in München angekündigt worden. Sie sollte zu dem nicht gerade leichten Thema „Klug sein angesichts der Unergründlichkeit des Lebens“ sprechen.

Blockbuster und Bibelarbeit

Um es vorsichtig zu sagen: eine Philosophin, die im Rahmen einer Bibelarbeit über ein solches Thema spricht – das riecht nicht gerade nach einem Blockbuster. All das schwirrte mir durch den Kopf, weil ich selbst schon auf weitaus kleineren Bühnen aus Büchern gelesen hatte und garantiert jedes Mal vorher Panikattacken erlitt, dass sich kein einziger Mensch dafür interessieren könnte. Vor dem Eingang zum größten Saal des Kinos hing ein Filmplakat, das für das Abendprogramm warb: George Clooney in dem Fantasyfilm „A World beyond“. Ich fragte mich, ob der Film eigens zum Kirchentag ins Programm aufgenommen wurde, aber der Gedanke verflüchtigte sich schnell wieder, weil ich jetzt geradezu unter solidarischer Angst mit Frau Hutflötz litt. Womöglich wäre ich in der nächsten Stunde ihr einziger Zuhörer.

Im Saal saßen dann allerdings hundert Leute. Hundert. Morgens um halb zehn, versammelt, nicht um sich von Mr. Clooney um den Finger wickeln zu lassen, sondern um mit Karin Hutflötz Halbsatz für Halbsatz eine Bibelstelle zu analysieren. Ein kleines Kirchentagswunder. Vor mir saßen ergraute Herrschaften, neben mir pubertierende Jugendliche, die mit einem Stoffschaf als Maskottchen angereist waren.

Der Wahnsinn der täglichen Meetings

Frau Hutflötz redete tiefgründig und unterhaltsam über die Sinnfragen des Lebens, vor allem auch des Berufslebens. Während parallel zu ihrem Vortrag in der ganzen Stadt Mails gecheckt, gelöscht und beantwortet wurden, Arbeitsaufträge erteilt und abgearbeitet wurden, beschrieb die Philosophin den Wahnsinn der täglichen Meetings im Büro: In diesen gehe es eigentlich um nichts, „und doch geht es um alles“. Die 100 Zuhörer hatte sich die Philosophin damit locker verdient.