Dino Andretti serviert seit 25 Jahren den Schwaben italienische Küche. Am Rande der Alb fing er als kleiner Gastronom an, in der Stuttgarter Innenstadt kam er groß raus. Nun hat er sich mit der Trattoria Capretto in Bad Cannstatt ein Stück Heimat geschaffen.

Nachrichtenzentrale : Lukas Jenkner (loj)

Stuttgart - Ein paar Wochen nach der lebensrettenden Operation hat Dino Andretti begonnen, seine Kindheitserinnerungen aufzuschreiben. Sie handeln von den Nachmittagen, die er unter den Mandelbäumen seines Heimatstädtchens Manfredonia verbracht hat, neben Trockenmauern, an denen Feigenkakteen wuchsen. Manfredonia liegt am Fuß der Gebirgskette Gargano an der Ostküste, genau da, wo der italienische Stiefel seinen Sporn hat. Er verdankt seinen urdeutschen Namen dem letzten süditalienischen Stauferkönig Manfred, einem Sohn Friedrichs II. Andretti hat sich erinnert, wie er mit seinem Bruder morgens zur Kirche gelaufen ist, weil es nach der Frühmesse etwas zu essen gab, seine Mutter ihnen das aber nicht glaubte und sie mit dem Besen vor die Tür jagte, weil die Brüder mit ihren vermeintlichen Lügen das Ansehen der Kirche beschmutzten.

 

Mit blauer Kugelschreibertinte hat er die Buchstaben fest ins Papier eingedrückt und Dinge notiert, die aus einem Streifen von Guiseppe Tornatore stammen könnten, der mit seinem Film „Cinema Paradiso“ der süditalienischen Kleinstadt der 50er und 60er Jahre ein filmisches Denkmal gesetzt hat. Tatsächlich aber war es ein karges Leben. Es gab wenig zu tun. „Dafür aber jede Menge Meer“, sagt Dino Andretti. Da erschien es sogar verheißungsvoller,  sich auf deutschen Straßenbaustellen krummzubuckeln. Dino entschloss sich 1970 mit 15 Jahren, seinem Vater ins ferne Schwabenland zu folgen. Die Mutter blieb mit einer Schar Kinder zurück, die noch wachsen sollte, zwölf waren es schließlich. „Ich wollte nicht auf Kosten anderer leben.“

„Nach einer unendlich langen Zugfahrt“ in Stuttgart angekommen, schrubbt Dino Andretti im Akkord auf dem Bau, verdingt sich als Tellerwäscher in der Gastronomie und arbeitet sich hoch. Mit Anfang 30 erklärt er seiner Verlobten und eingefleischten Stuttgarterin Eva, nun selbst ein Restaurant eröffnen zu wollen – in Bisingen am Rande der Alb, einer Gemeinde mit 7000 Einwohnern, die bis dato von fremdländischer Küche weitgehend unberührt geblieben sind. „Wie denn? Wir haben ja nicht mal Geld für Zigaretten.“ Mehr sei ihr nicht eingefallen, sagt Eva Andretti heute. Ihren Verlobten hält das nicht auf. Dem Betreiber der Zigarettenautomaten schwatzt er 3000 Mark als zinsloses Darlehen ab und dem Berater in der Kreissparkasse einen Dispokredit, ohne jegliche Sicherheiten.

Die Mutter knetet Gnocchi

Nach der Fasnet 1987 ist es so weit. „Es lag unendlich viel Schnee“, erinnert sich Andretti, als das erste italienische Restaurant in Bisingen eröffnet – mit Pizzaofen, der Name Gargano eine Reminiszenz an die Heimat. Die Mutter knetet Gnocchi und füllt selbst gemachte Ravioli mit Ricotta und Spinat – für schaffige Schwaben, die vor allem Schafskopf spielen und Bier trinken wollen. Viel Bier.

Die 80er Jahre sind für einen jungen italienischen Restaurateur in Deutschland trostlos. Was eine Lasagne ist, weiß noch längst nicht jeder. Auch Rucola muss Andretti dem Gemüsehändler erst erklären. Auf der Karte stehen Klassiker wie Spaghetti Carbonara und Tortellini alla Panna. Die Pizza Gargano ziert ein Spiegelei, und auf den Flaschenetiketten ist „Lambrusco“ und „Frizzantino“ zu lesen. Die Koordinaten italienischer Küche für deutsche Gaumen haben Mirácoli und Tiefkühlpizza gesetzt.

Immerhin: Schwaben und Italiener finden in Bisingen doch zueinander. Der Schützenverein zieht in die Gaststube ein, und als sich das Ehepaar Andretti nach vier Jahren trotz des allmählichen Erfolges entschließt, das Restaurant aufzugeben, „da weinte sogar der Bürgermeister“, erzählt Dino Andretti mit charmanter italienischer Glorie. Vier Jahre lang von der Wohnung im Dachgeschoss hinab in die Stube, nachts wieder hoch, nur einmal in der Woche montags nach Stuttgart, um ein bisschen Stadtluft zu schnuppern – das jedoch ist mitnichten glorios und auf Dauer keine Perspektive für ambitionierte Gastronomen.

In der Landeshauptstadt lockt ein Angebot, das die Andrettis nicht ablehnen können – eine Lokalität an der Calwer Straße, eine Gastromeile, die bis heute von italienischen Großrestaurants dominiert wird. Gemeinsam mit seinem Kompagnon Luigi eröffnet Dino Andretti 1991 das Ristorante La Piazzetta – und schwärmt bis heute von den Jahren, in denen er in der Szene italienischer Gastronomen in Stuttgart ganz vorne mitmischt. „Wir haben uns perfekt ergänzt“, sagt Andretti über die Aufgabenteilung mit Luigi. Er habe sich um das Gastronomische gekümmert, sein Kompagnon habe dafür gesorgt, dass das Restaurant in der Stadt im Gespräch geblieben sei.

Die Goldene Spaghettigabel

Dino ist auch mit dabei, wenn seine Landsleute um den damals populären Promiwirt Maurizio Olivieri herum mit der italienischen Gastronomiegala rauschende Feste in der Alten Reithalle veranstalten. Stars wie Mario Adorf, die Kessler-Zwillinge, Milva, der Mercedes-Designpapst Bruno Sacco und Willi Weber, damals noch respektierter Manager von Michael Schumacher, bekommen für ihre Verdienste um die deutsch-italienische Freundschaft die „Goldene Spaghettigabel“ überreicht – eine Trophäe, wie es sie wohl nur in den 90ern geben kann.

Die Speisen sind jenseits aller Pasta-Peinlichkeit: Marinierte Garnelen mit weißen Bohnen und Sellerie auf Salatherzen, Perlhuhn mit Spargel und Mascarponemousse mit Rum und Waldbeeren werden gereicht. Getanzt wird in der Garderobe von Breuninger Exquisit. Für Eva und Dino Andretti scheint es nur nach oben zu gehen. Als Vertreter eines italienischen Gastronomieverbandes drückt er einmal dem italienischen Präsidenten Luigi Scalfaro die Hand.

Der Entschluss, im viel beachteten, vom Architekten Günter Behnisch errichteten Neubau der Landesgirokasse an der Fritz-Elsas-Straße ein gehobenes italienisches Restaurant einzurichten, erscheint folgerichtig. Im Juni 1997 öffnet das Fellini, der Name ist inspiriert vom Kino nebenan. In der Stuttgarter Zeitung steht ein zünftiger Verriss, bemängelt werden ein salziges Pesto und die fettige Tomaten-Sahne-Soße.

Ein Rückfall in überwunden geglaubte Unsitten der frühen Pizzeria-Phase? Die Töpfe dampfen trotzdem. Es sitzt auch mal der Formel-Eins-Pilot David Coulthard am Tisch. Eine Pause gibt es nicht: In der Calwer Straße betreiben Andretti und sein Kompagnon auch noch das Banco, ein italienisches Café, das es noch heute gibt.

Die Kraft schwindet

2001 wird Dino Andretti krank. Sehr krank. Er muss operiert werden, die Genesung dauert Monate. Danach ist er ein anderer Mensch. Ein paar Jahre hält er im Fellini noch durch, doch dann geht es nicht mehr. „Mir fehlte die Kraft, 15 bis 18 Mitarbeiter im Griff zu halten“, sagt Andretti, der heute 57 ist. Er muss sich etwas Neues suchen.

Er findet ein kleines, leicht nach vorne gebeugtes Häuschen in der Spreuergasse in Bad Cannstatt. Nach der Pizzeria am Dorfplatz, dem Ristorante auf der Gastromeile und dem Edelitaliener in der Bankzentrale ist es nun also die Trattoria an der Ecke mit der familiären Atmosphäre. Schon ewig heißt das kleine Lokal Zickle, wegen des Ziegenstalls hinterm Haus. Die Andrettis nennen das Zickle auf Italienisch Capretto, stellen ein paar Tische in das lauschige Gärtchen, und seit fünf Jahren nun gibt es dort „la vera Cucina italiana“, wie Andretti wirbt: die wahre italienische Küche.

Er bereitet in der winzigen Küche, wie er sagt, die Spaghetti ebenso aufmerksam zu wie eine Seezunge. Trüffel werden nicht als Öl über die Pasta gekippt, sondern gehobelt. Gästen, die ihm am Herzen liegen, verweigert er auch mal den Parmesan zu den Spaghetti Aglio e Olio e Peperoncini, weil es nicht passt. „Ich verbiege mich nicht mehr“, sagt er. Nicht nach einem Vierteljahrhundert. So lange serviert Dino Andretti seinen Gästen bereits Pizza, Pasta, Prosciutto und Pesce. Manchmal nimmt er dem Rosenverkäufer alle Blumen ab und verteilt sie an die Gäste.

Gelegentlich gibt es zu den Antipasti Früchte vom Feigenbaum vor dem verfallenen Ziegenstall. „In den Garten habe ich mich gleich verliebt“, sagt Dino Andretti. Der Baum und die zerklüfteten Mauern erinnern ihn an seine Heimat im Süden. Und möglicherweise schließt diese Geschichte einmal unter den Mandelbäumen von Manfredonia. Denn zu Ende ist sie noch nicht. Doch bis dahin ist es hoffentlich noch eine ganze Weile.