Zwei Reporter fahren im Zug quer durch Europa, um dem Kontinent den Puls zu fühlen. Matthias Schiermeyer beschreibt im zweiten Teil der Reise den Aufschwung der Rechten in Frankreich und wie sich die neuen Armen auf der Iberischen Halbinsel selbst helfen.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Lissabon - Ist doch seltsam: da bestellt die Hauptfigur des zehn Jahre alten Romans „Nachtzug nach Lissabon“, der Altphilologe Raimund Gregorius, mit einem Anruf eine Fahrkarte von Bern in die portugiesische Hauptstadt – doch wer dies am Bahnhof in Stuttgart versucht, scheitert. Die Dame am Schalter kann wegen unterschiedlicher Buchungssysteme in Frankreich und Spanien keine durchgängige Fahrt nach Lissabon verkaufen. Was tun? Weiß sie nicht. Glücklicherweise hilft das Internet, so dass die Bahnreise an den Atlantik mit allen erforderlichen Tickets im Rucksack beginnt.

 

In Straßburg, der ersten Station, ist die EU noch sehr präsent – was kaum verwundert, denn dort tagt das Europaparlament. Vor dem Bahnhof verteilen die Grünen und die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) Wahlkampfblätter. Neben dem Stationsgebäude wehen die Flaggen der EU-Mitgliedsländer im kühlen Morgenwind.

In Straßburg ist die EU noch für alle sichtbar. Foto: Schiermeyer

Fünf Stunden später, im südfranzösischen Béziers, zeigt sich Europa hingegen von einer verletzlichen Seite. Seit den Kommunalwahlen Ende März gilt die 72 000-Einwohner-Stadt als Hochburg der Rechtspopulisten. Dies hat mit den 21 Prozent Arbeitslosigkeit und dem Zuzug von Afrikanern und Osteuropäern zu tun. Zu verdanken hat Béziers seinen Ruf aber in erster Linie dem neuen Bürgermeister Robert Ménard. Der 60-Jährige gehört zwar nicht dem Front National (FN) an, ist aber mit dessen Rückhalt ins Amt gelangt.

Gegen 22.30 Uhr, die Ablösung ist da. Nathalie Begart, die Hotelangestellte, zieht sich ihre Strickjacke an, um heimzugehen. Bedroht fühlt sie sich in den dunklen Gassen nicht. Auf den Straßen sei seit der Wahl Ménards viel mehr Polizei zu sehen – weniger wegen der Kriminalität, sondern um den Menschen ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Der Bürgermeister ist Gründer des französischen Ablegers von „Reporter ohne Grenzen“ – und ein politisches Enfant terrible. Ménard hat sich schon gegen neue Moscheen gewandt, gegen Homosexualität agitiert und die Todesstrafe befürwortet. In Béziers für Ordnung zu sorgen, hat der gebürtige Algerier sofort begonnen. Nathalie stammt aus einer sozialistischen Familie, mag über ihn aber nichts Schlechtes sagen. Dass er eine Ausgangssperre von 23 bis sechs Uhr für unter 13-Jährige angekündigt hat, stört sie nicht. „Die Kinder gehören um diese Uhrzeit nach Hause, sonst kommen sie nur in Berührung mit Drogen“, sagt sie.

Spuren der politischen Auseinandersetzung: Wahlplakat in Béziers Foto: Schiermeyer

Béziers sei keine Hochburg der Rechten, korrigiert Arnaud Fauli das neue Image. Die Bürger seien des früheren Stadtoberhaupts und der großen Parteien überdrüssig gewesen, sagt der Redakteur der Tageszeitung „Midi Libre“. Sie hätten Neues wagen wollen. „Ménard ist der richtige Mann im richtigen Moment.“ Für Béziers sei er genauso wenig eine Gefahr wie der FN für Frankreich, glaubt der 39-Jährige. Deren Chefin Marine Le Pen sage halt viel, wenn der Tag lang ist. „Ménard ist sehr präsent und für jedermann ansprechbar“, urteilt Fauli. Anders als sein Vorgänger gebe er jeden Mittwoch eine Sprechstunde im Rathaus. Für ausländische Journalisten hat er offenbar weniger Zeit: Trotz beharrlicher Anfragen hat seine Sekretärin eine Absage erteilt. Als erfolglos gestaltet sich auch die Suche nach dem FN-Büro: In der Snack-Bar Le Club wissen weder die Angestellte noch die beiden Gäste, in welcher Nachbarstraße es zu finden ist. Doch ruft das Trio zum Abschied fröhlich „Heil“ hinterher, den rechten Arm locker zum Gruß erhoben.

Am nächsten Vormittag eilt der Zug gen Spanien. Aus dem Speisewagen ertönt Fangesang „Campeones, campeones, oe oe oe“. Elf Schlachtenbummler des FC Sevilla kämpfen sich von Turin über Lyon bis Barcelona vor, um dort per Flugzeug nach Málaga zu gelangen. Wegen eines Streiks in Frankreich dauert ihre Rückkehr vom Europaliga-Finale gut einen Tag länger als gedacht. Doch das Titelglück und das Bier der Bordküche halten sie bei Laune.

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Am Bahnhof von Barcelona werden die Reisenden so streng kontrolliert wie sonst nur an Flughäfen – die Spanier haben Angst vor neuen Anschlägen wie 2004. Auf dem Weg nach Madrid präsentiert sich die spanische Bahn Renfe in ihrer Paradedisziplin. Mit einem Tempo von bis zu 300 Kilometer pro Stunde rast der Hochgeschwindigkeitszug Richtung Hauptstadt: 630 Kilometer in zweidreiviertel Stunden. Auf den Bildschirmen wird ein amerikanisches Drama über die Finanzkrise geboten – als hätten die Spanier nicht genug Krise daheim.

Gut besichtigen lässt sich deren Folgen in einem schicken Innenstadtviertel an der Calle de Monteleón. Dort halten zehn Frauen und zwölf Kinder ein vierstöckiges Haus illegal besetzt, weil sie sonst obdachlos wären. Der Eingang sieht nicht danach aus, als würde hier jemand wohnen. Doch Kindergeschrei dringt nach außen, und an der schmucken Fassade hängt ein großes Tuch mit der Aufschrift: „Während wir unseren Kindern die Brust geben, fordern wir das Recht auf ein Dach über dem Kopf.“ Am 26. April wurde das Gebäude in Beschlag genommen und „La Leona“ (die Löwin) getauft, weil die jungen Mütter das Wohl ihrer Kinder wie Löwinnen verteidigen wollen. Hinter der Aktion steckt eine Art Bürgerinitiative namens Vivienda Centro, die wiederum Teil einer großen Protestbewegung ist, der etliche etablierte Bürger wie Anwälte oder Lehrer angehören.

Maialen Gredilla öffnet die Tür. Die 32-jährige Aktivistin von Vivienda Centro ist ein Energiebündel, nur etwa 160 Zentimeter groß und voller Ideale, aber auch Skepsis. Neben dem Hauptberuf im Kaffeeexport wendet sie viel Zeit dafür auf, Mitmenschen aus den Fängen von Staat, Banken und Immobilienfirmen zu befreien. Dafür riskiert sie Bußgelder und sogar ihren Job, weil der „Boss“ von alldem nichts weiß. Binnen fünf Monaten hat sie mit Gleichgesinnten drei Häuser erobert – „von den Banken zurückgeholt“, wie sie sagt. Die Eltern sorgen sich, stehen aber hinter ihr.

„Im Vorfeld einer Besetzung sind nur zwei, drei Beteiligte eingeweiht“, erzählt Maialen. Zu der Aktion selbst werden aber bis zu 600 Freunde eingeladen – auch als Schutzschild für die Bewohner gegen die anrückende Polizei. Zunächst müssen sie dann dramatische Minuten überstehen, danach „ist es eine große Party“. In erster Linie wenden sich die Nachbarschaftsinitiativen gegen Zwangsräumungen, falls Wohnungsbesitzer die Hypotheken nicht mehr bedienen können. Nachdem „La Leona“ 17 Jahre nicht genutzt worden war, hat es eine Firma für Immobilienmanagement vor drei Jahren renovieren lassen, wegen der Finanzkrise aber nicht vermietet. Eine Gelegenheit zur Eroberung

Im Zug nach Barcelona feiern die Fußball-Fans. Foto: Schiermeyer
des vierstöckigen Hauses. Die Räume sind notdürftig eingerichtet oder leer; es könnte ja nur für kurze Zeit sein. Lampen aufzuhängen, lohnt sich nicht. Strom, Gas und Wasser wurden gesperrt. Da müssen sich die Hausbesetzerinnen behelfen – wie, das bleibt offen. Küchengeräte sind nicht zu sehen; stattdessen stapeln sich Vorräte und leere Flaschen.

Die zweifache Mutter Virginia (37) und ihre Freundinnen Maria (24) sowie Duna (21) würden dennoch gerne bleiben. Sie teilen das Schicksal der Arbeitslosigkeit; von den Vätern ihrer Kinder erwarten sie keine Hilfe. Zu dritt drängen sie sich auf einem alten Sofa, dem einzigen Möbelstück im Raum. Die Kinder krabbeln um ihre Beine herum oder schlafen auf dem Schoß. Maria, eine gelernte Friseurin, ist hochschwanger – Zuversicht gibt ihr, dass sie mit dem Baby in der Gemeinschaft nicht allein fertig werden muss. Auch wenn Vivienda Centro keine bezahlbaren Mieten heraushandelt, dürften noch Monate vergehen, bis ein Gericht die Frauen zwingt, wieder zu gehen. Maialen verabschiedet sich, sie will noch ein Camp der Protestbewegung besuchen.

Fast zehn Stunden braucht die Diesellok, um den Nachtzug von Madrid nach Lissabon zu ziehen – im großen Bogen, eine Direktverbindung gibt es nicht. 2011 hat Portugals Regierung die Schnellbahnstrecke wegen der Krise gestoppt, so dass der Fortschritt eine Schnecke bleibt. Ankunft nach dreitägiger Reise am alten Hauptbahnhof Santa Apolonia, der heute nur noch Kleinstadtformat hat. Wer von hier aus zu den großen Plätzen geht, kann die Flaggen und Plakate nicht übersehen, die auf das Champions-League-Endspiel hinweisen. Lissabon ist am Samstagabend der Nabel der Fußballwelt und will sich nicht als Armenhaus präsentieren. Anders als in Frankreich wurden aber kaum Wahlplakate aufgehängt; allenfalls die CDU – hier ein Bündnis inklusive Kommunisten – wirbt offensiv im Stadtkern.

Marco Marques kämpft für ein sozialeres Portugal. Foto: Schiermeyer
Mit der traditionellen Schiebermütze in der Hand betritt Marco Marques das Café am zentralen Platz Rossio. Der 30-Jährige hat sich mit anderen Aktivisten dem Kampf gegen die völlig ausgeuferte unsichere Arbeit verschrieben. Die Portugiesen sind nach seinen Worten demonstrationsmüde geworden. „Derzeit ist die Protestbewegung nicht sehr groß – sie leidet an so etwas wie einem Kater, sodass wir unseren Kampf gegen das Abbauprogramm überdenken müssen.“ Marques ist ein besonnener Mensch und studierter Forstwirt. Als erstes Mitglied seiner Familie hat er einen Universitätsabschluss erworben, weil die Studiengebühren seinerzeit noch erträglich waren. Dennoch ist er arbeitslos und lebt bis Juni von 620 Euro Arbeitslosengeld. Die Angebote, die er auf seine Bewerbungen hin erhält, bieten keine besseren Aussichten. Die Frage, warum die Löhne trotz Studiums so niedrig seien, belustigt ihn: „Sie sind überall niedrig.“ Sein älterer Bruder arbeitet im Gastgewerbe; ein stetes Einkommen gilt in Portugal viel. Wenn es mit dem erhofften Stipendium nichts wird, muss sich auch Marco rasch nach einem Dienstleistungsjob umschauen – trotz übler Erfahrungen. Bis Anfang 2012 arbeitete er vier Monate für ein Einrichtungshaus der Modekette Zara – für etwa drei Euro pro Stunde, was nur knapp über dem Mindestlohn liegt.

Während des Fototermins auf dem Rossio tritt plötzlich ein Unbekannter hinzu: „Haschisch? Gras?“ Marques lächelt, peinlich berührt. Einige Landsmänner finden offenbar kriminelle Wege, um Geld zu verdienen. Durch die Reformprogramme seien schon mehr als 300 000 Jobs zerstört worden, sagt Marques. Die Regierung betreibe den Abbau aller sozialen Strukturen. So ist die Organisation gegen prekäre Arbeit auf vielen Ebenen aktiv: Sie unterstützt Betroffene, plant Demos, macht Kampagnen und sammelt Unterschriften für ihre Anliegen, damit das Parlament darüber beraten muss. Zudem kämpft sie gegen Resignation und Angst der Menschen, weil die Regierung mit noch härteren Sparpaketen droht.

In kaum einem Land ist das Vertrauen in die EU so gering wie in Portugal: „Die Menschen sehen keine Chance in einem Europa, das so undemokratisch vorgeht“, klagt Marques. „Jede Woche werden neue Einschnitte verkündet, doch wann verbessert sich unser Leben?“ Die Europawahlen sieht er gleichwohl als möglichen „Moment der Teilhabe“. Damit „können wir ein Zeichen an das EU-Parlament senden, dass dies nicht der Weg ist, auf dem die Menschen ihr Schicksal regeln wollen“.