Auf vermeintlich Bekanntes reagiert der Fernreisende oft allergisch, fremde Welten würde er gerne exklusiv für sich haben, hat Jan Sellner beobachtet.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart - An diesem Sonntag endet die 50. CMT. Davon motiviert, inspiriert und munitioniert werden in den nächsten Wochen und Monaten Tausende Urlaubshungrige und Fernwehkranke in aller Herren und Damen Länder ausschwärmen – pauschal, mit Vorliebe aber auch individuell. Die Welt entdecken, fremde Länder, Menschen und Kulturen aufspüren, das wirkt verlockend. Störend für den Entdecker ist nur, dass er selten alleine ist. Andere waren vor ihm da – oder sind es, was besonders desillusionierend ist, zur selben Zeit. In welch vermeintlich unbekannte Gegend der Individualreisende auch aufbricht – zu den Omo in Äthiopien oder in die Alanta-Berge in Kamerun, stets trifft er auf Gleichgesinnte – im schlimmsten Fall auf Stuttgarter. So schön das heimische Idiom bei anderen Gelegenheiten ist – am Strand von Batumi in Georgien will man es nicht hören. Da wendet sich der Columbus in uns mit Grausen und denkt sich: So klein ist die Welt. Leider!

 

Früher freute man sich über ein „S“

Das war mal anders. Sagen wir in den 60er Jahren. Da machte man noch gerne Begegnungen der bekannten Art. Selbst beim unspektakulären Italien-Urlaub huschte dem Touristen ein Lächeln über die Lippen, wenn man unversehens „deutsh sprach“ oder sogar Schwäbisch. Ein beredtes Beispiel für den ursprünglichen Gemütszustand des Urlaubers, liefert Leserin Karin Merkle aus Stuttgart. In ihren Urlaubserinnerungen, die wir anlässlich der CMT in dieser Woche zusammen mit anderen Leserbeiträgen veröffentlicht haben, notierte sie folgende Szene von einer Passstraße in den Alpen: „Kam das entgegenkommende Auto näher und sah man am Nummernschild, dass es sich um ein deutsches Auto handelte, schaute die ganze Familie gespannt auf das Ortskennzeichen. Und wenn da dann auch noch ein ‚S‘ stand, waren sämtliche Insassen in beiden Wagen völlig aus dem Häuschen und man winkte wie wild, obwohl man sich gar nicht kannte. Heutzutage ist das Gegenteil der Fall: Hört man im Ausland heimischen Dialekt, duckt man sich weg!“

Der Reisende ist ein seltsames Wesen

Wie Recht sie mit dieser Beobachtung hat! Sie zeigt: Der Mensch, besonders der verreisende Mensch (homo viator) ist ein seltsames Wesen. In wenigen Jahrzehnten hat die Evolution – oder vielleicht doch der Wohlstand? – große Veränderungen bei ihm bewirkt. Ob zum Guten, sei dahingestellt. In frühen Tourismusjahren wurde Vertrautes im Ausland jedenfalls nicht als lästig empfunden, sondern als eine Art Bestätigung. Der Fernreisende heute will das Fremde dagegen für sich allein haben. Alles ist ihm unterwegs willkommen, bloß keine Stuttgarter! Oder Fellbacher! Erstaunlich, dass der Tourist, der den Touristen aus dem Weg gehen will, vergisst, dass er selbst einer ist, ganz gleich wie er sich definiert – als Traveller, Backpacker, Kulturbeflissener oder Weltenbummler.

Tatsächlich neigt der moderne Reisende dazu, sich etwas vorzumachen – je größer die Entfernung zum Heimatort, desto mehr. Nicht selten geht die angestrebte Freiheit einher mit Widersprüchen. Fremde Kulturen, Unbekanntes sind in kleinem Maßstab übrigens auch hier zu finden. Das ist kein Plädoyer fürs Hierbleiben, doch vielleicht sollten wir uns zwischendurch mal selbst entdecken – Stuttgart und seine Menschen inklusive.

jan.sellner@stzn.de