Die 70er Jahre waren für die Menschen ein Drunter und Drüber. Vom Deutschen Herbst 1977 war Stuttgart besonders betroffen, und auch andere Umwälzungen und Bauarbeiten beunruhigten die Bürger. Erinnerungen an ein aufwühlendes Jahrzehnt.

Stuttgart - Stuttgart in den Siebzigern? Für die Bürger war es ein Drunter und Drüber. Drunten, unter dem Asphalt, wurde ein Tunnellabyrinth für Busse und Bahnen gebohrt: Stuttgart wird zur Maulwurf- City. Droben, im Stammheimer Gefängnis, planten Terroristen den Deutschen Herbst. Und die Umwelt schien aus den Fugen zu gehen. Ein unruhiges, ein dramatisches Jahrzehnt. Ausnahmezustand pur.

 

Bürger, die der Haushaltsrede von Oberbürgermeister Arnulf Klett im November 1969 zugehört hatten, ahnten, was ihnen blühen würde: Großprojekte „von der U-Straßenbahn bis zur S-Bahn“, vom Tarifverbund bis zum Ausbau des Flughafens.

Aber wer hört beim Thema „Haushalt“ schon hin? Zudem meinten die Stuttgarter zu wissen, was sie erwartete. Schon vor Jahren war der Charlottenplatz für Autos und die U-Straßenbahn unterminiert worden. Den Rest würde man mit Gottes Hilfe und schwäbischer Gelassenheit durchstehen.

Doch was mit dem „ersten Rammschlag“ für die S-Bahn begann, entwickelte sich zu einer Buddelorgie ungeahnten Ausmaßes. Bald fühlten sich Fußgänger und Autofahrer selbst wie vom Bagger gerammt. Ob S-Bahn- Röhre zwischen Bahnhof und Schwabstraße, ob Unterpflastertunnels für die neue Stadtbahn: der Schlossplatz wurde zum Krater, die Königstraße zur Schlucht, der Bahnhofsplatz zum gähnenden Abgrund. Reihenweise brach der Verkehr zusammen, ratlose Menschen irrten über Behelfsbrücken und Notstege und wussten nicht mehr, wo die Bauwüste aufhörte, wo ihre liebe Stadt begann.

Eröffnung der S-Bahn

Die Medien menetekelten, Stuttgart werde endgültig dem „Moloch Verkehr“ geopfert. Kommunalpolitiker sahen mit Schrecken, wie immer mehr gestresste Bürger die Gemarkung verließen. Der „Partner der Welt“, plötzlich „eine sterbende Stadt“? Das Jammern dauerte allerdings nur so lange, bis die neue S-Bahn mit Pomp und Prominenz eröffnet wurde. Die Zeitungsleute bejubelten den Start als „das Ereignis des Jahrhunderts“, und 500.000 Menschen feierten drei Tage lang den neuen öffentlichen Nahverkehr.

Alles in Butter? Nein, das „vergrabene Jahrzehnt“ steckt den Älteren noch so in den Knochen, dass sie ängstlich an den nächsten Schürfzirkus denken – an Stuttgart 21.

Der zweite Unruheherd lag draußen am Stadtrand: im Stammheimer Gefängnis. Das Treiben der Rote-Armee-Fraktion hatte Stuttgart zunächst wenig berührt – abgesehen vom Streit, ob die RAF eine „Gruppe“ oder eine „Bande“ sei und ob man mit ihr „wie mit einem Staat“ verhandeln müsse, wie kritische Geister vom Buchhändler Wendelin Niedlich bis zum Schriftsteller Helmut Heißenbüttel forderten.

Angst wandelte sich in Entsetzen

Doch bald erlebten die Bürger, wie Baader, Meinhof & Co. in den siebten Stock der angeblich sicheren Knastfestung einzogen. Und sie lasen fassungslos, dass diese „Festung“ von Rechtsanwälten mit eingeschmuggelten Kassibern und Waffen durchlöchert wurde. Außerdem mussten sich während des Mammutprozesses gegen die RAF-Führer immer mehr Stuttgarter immer öfter filzen lassen. Wer in Verdacht geriet, war tatsächlich in Lebensgefahr. Auch Unschuldige wurden in jenen Jahren verletzt, erschossen. Fahndungshysterie grassierte.

Als sich die verurteilten Terroristen das Leben genommen, als ihre mörderischen Nachfahren den Stuttgarter Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer samt Fahrer und Beschützer umgebracht hatten, wandelte sich Angst in Entsetzen. Die Königstraße erlebte Schweigemärsche, die Stadt war erschüttert von Attentatsdrohungen, Verhaftungen und Trauerfeiern. Ein Deutscher Herbst, der das Blut in den Adern stocken ließ. „Stammheim“ wurde zum Synonym für Staatsgewalt und angebliche Isolationshaft.

Dabei hatten die Menschen der Achtundsechzigerbewegung Konstruktives abgeschaut: bürgerschaftliches Engagement, die Lust an Mitsprache, auch an zivilem Ungehorsam. Plötzlich gingen alle auf die Straße: Oberschüler, Studenten, Friedensfreunde, Abtreibungsfürsprecher, die Gegner der Ausländerdiskriminierung oder der Flughafenpläne. Kindergartenkinder besetzten das Rathausfoyer. Der Aufruhr steckte an.

Was die Bürger in den 70ern ebenfalls sehr beunruhigte, waren die immer deutlicher sichtbaren Umweltschäden. In Neckar und Körsch verendeten die Fische, an den Straßenrändern verdorrten die Bäume, und Hedelfinger Schüler skandierten „Mit Abgas auf dem Butterbrot, sind wir in kurzer Zeit schon tot“. Die Sorge ging um: vor Wasserverseuchung, Luftverpestung, Waldsterben.

„Umweltbewusstsein“ war Pflicht

Die Verwaltung reagierte, hielt Umweltkongresse ab, rief Experten, setzte Kommissionen ein. Oberbürgermeister Arnulf Klett kündigte „unpopuläre Maßnahmen“ an, und der Stuttgarter Gemeinderat beschloss für seine Sitzungen prompt ein Rauchverbot. „Umweltbewusstsein“ war Pflicht, und eine neue Partei erinnerte daran. Die Grünen mit ihrer Basis in den Halbhöhenlagen stürmten letztlich im Jahr 1980 den Landtag.

Der Cocktail aus Öl- und Wirtschaftskrise, Terrorangst, Drogenfurcht und dem Zustrom von Asylbewerbern weckte unter den Bürgern ein Gefühl des Unbehagens an ihrer Stadt. Fortschritt? Mobilität? Wohlstand? Alles schien gefährdet. Dazu: OB Klett gestorben, Ballettgott Cranko tot, Peymann- Krach am Theater, wüste Unwetter, ein zeitweilig zweitklassiger VfB: „Can’t get no Satisfaction“, wie die Rolling Stones im Neckarstadion sangen. Skeptische Zeitgenossen packten ihren Zorn in eine Ausstellung mit dem Titel „Kaputtgart“. Der neue Oberbürgermeister Manfred Rommel verteidigte sie überraschend: Ja, manches sei falsch gelaufen. Aber die Stadt sei besser als ihr Ruf.

Tatsächlich milderten bald Stimmungsaufheller die Depression: neue Bummelzonen, Peer-Uli Faerbers Bürgerfeste, das Weindorf, die Stauferausstellung, der Titel „Landeshauptstadt“. Und das Wasser der Körsch wurde sauberer, der Anglerverein setzte bei Möhringen Forellen ein. Regenbogenforellen – ein Hoffnungssymbol für die Zukunft.

Dieser Text entstand im Rahmen der StZ-Geschichtswerkstatt „Von Zeit zu Zeit“ im Jahr 2008.

Geschichtswerkstatt „Von Zeit zu Zeit

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