Die 90er Jahre waren ein Jahrzehnt der postmodernen Beliebigkeit und der Globalisierung. Die Welt ist im Umbruch, und auch Stuttgart streift sein provinzielles Korsett ab. Mit dem Orkan Lothar endet das Jahrhundert.

Stuttgart - Eigentlich sind sie noch gar nicht so lange her. Trotzdem wirkt ein Blick in die 90er Jahre wie eine Reise in eine andere Zeit. Die Welt ist im Umbruch, und auch Stuttgart streift sein provinzielles Korsett ab. Veränderung. Beschleunigung. Und schließlich auch: Beliebigkeit. Diese Begriffe könnten symbolisch für die 90er Jahre stehen. Die Mauer fällt, und viele neue Nachbarn kommen plötzlich in die Stadt. Notunterkünfte, Übergangswohnheime, Hotels, Pensionen, Naturfreundehäuser und Waldheime platzen buchstäblich aus allen Nähten. Auch das Arbeitsamt sieht sich über Nacht mit einem echten Problem konfrontiert: wohin mit all den Frauen, die so typische Männerberufe ausüben wollen? Architektinnen und Bauingenieurinnen stehen erst einmal auf der Straße. Man nähert sich zwar an. Irgendwann. Aber es wird dauern.

 

Das Heimelige, Kuschelige und Behäbige der Stadt beginnt, sich aufzulösen. Mit Helmut Kohl verschwindet der letzte große Patriarch von der politischen Bühne, dafür taucht Gerhard Schröder auf und steht sinnbildlich für ein sich wandelndes Familienbild. Zufall oder nicht: die Scheidungsrate klettert in Stuttgart stetig nach oben. Auf der kleinen politischen Bühne geht die Ära des bundesweit bekannten Oberbürgermeisters Manfred Rommel zu Ende. Die Menschen verabschieden eine charismatische Figur, die zur Legende geworden ist. Als „Bürgermeister der Herzen“ bleibt er in Erinnerung – sagen die, die es damals miterlebt haben.

Essen auf Rädern für alle

Globalisierung heißt das Schlagwort des Jahrzehnts. Sind wir jetzt alle nicht nur ein bisschen schwäbisch, sondern auch ein bisschen japanisch? Toyotas kurvten zwar schon lange durch die Straßen, und die Musik kam aus dem Sony-Gerät, aber nun probierten die Menschen etwas, das Sushi hieß, die Jüngeren spielten Nintendo oder lasen Mangas. Einige sangen Karaoke und legten sich als Haustier ein Tamagotchi zu. Und wer weder kochen noch ins Restaurant wollte, hat sich die Pizza bringen lassen – Essen auf Rädern war nicht mehr nur den Alten vorbehalten.

Klar ist eines: die 90er waren alles andere als einseitig. Sie sind das Jahrzehnt einer Spaßgesellschaft zwischen Körperkult und Technikbegeisterung. Das Handy entwickelt sich vom Luxusgut zum Massenartikel, das Internet revolutioniert die weltweite Kommunikation. Tattoos und Piercing werden zum Zeichen individueller Abgrenzung. Und im Fitnessstudio werden Muskeln ausgebildet, die man zum Tippen von E-Mails oder SMS eigentlich gar nicht mehr braucht.

Kriege am Golf, in Bosnien und im Kosovo

Erst wird die Technoszene populär, dann die Jugendkultur der Generation X. Doch mit dem X der Generation war es ein Kreuz. Die Jungen setzten ihre Hoffnungen nicht mehr so sehr in die Friedensbewegung, auch nicht in einen Daimler, sie blieben mit ihren Hoffnungen beim Greifbaren: den neu eröffneten Einkaufszentren oder der großen Karriere als Start-up-Unternehmer. Bei Fahrzeugkontrollen werden nun weniger realitätsverstärkende Drogen im Handschuhfach gefunden als im Jahrzehnt zuvor, dafür steigt bundesweit der Umsatz an realitäsmindernden Antidepressiva. Die Realität – in Watte gepackt.

Es ist aber auch das Jahrzehnt, in dem Kriege am Golf, in Bosnien und im Kosovo die Welt in Angst und Schrecken versetzen. Mehr als 30.000 Menschen demonstrieren auf dem Schlossplatz gegen den Golfkrieg. Der technisierte Schrecken flimmert aus dem Bildschirm in die Stadt. Und die Bedrohung findet immer neue Wege: Computerviren und Würmer führen erstmals auch den Privatpersonen ihre neue Schutzlosigkeit vor Augen. Gleichzeitig breitet sich in diesem Jahrzehnt eine neue Art von Schutz aus – die ersten Autos schlängeln sich mit serienmäßig eingebauten Airbags die Weinsteige entlang.

Wer das Nachtleben liebt, geht in Pauls Boutique, ins Oz, das Müsli oder ins Unbekannte Tier. Auch in der Hanns-Martin- Schleyer-Halle steigen große Events: Boygroups erfreuen erst Mädchen, die damals Girlies heißen, und schließlich fast alle Popfans. Gleichzeitig spült sich eine Musik in die Hitparaden, die dort bisher nicht hingehörte: Grunge, verkörpert durch Nirvana. Seitdem ist Krach in den Konzerthallen in Ordnung, und strähnige Haare waren für alle, die nicht im Modeladen „Abseits“ einkaufen wollten, genauso angesagt wie zerrissene Jeans, kuschelige Baumfällerhemden und zerfressene Mottenpullover. Es ging um Verweigerung und vielleicht um Hoffnungslosigkeit, doch keiner hat damals „No future“ geschrien. Brave Zahnarzttöchter wurden Grunge-Mädchen, es war ein Stil und keine Rebellion. Und dann bewiesen die Sprechreimer der Fantastischen Vier erst ihrer Heimat, und später fast der ganzen Welt, dass Hip-Hop aus Stuttgart echt „fett“ sein kann.

Trubel auf dem Schlossplatz wegen der „Sofi“

Erfolge werden aber auch in einem anderen Bereich und von einer anderen Generation gefeiert. Bei der größten bislang da gewesenen Putzaktion Let’s Putz schwingen mehr als 7300 Menschen ihre Kehrbesen durch die Stadt. Während bundesweit der Grüne Punkt eingeführt wird, hat OB Schuster eine pragmatischere, grüne Idee. Er will seine autonärrischen Bürger zu einem „nachhaltigen Engagement für eine saubere Umwelt“ motivieren. Mehr als 20 Tonnen Müll kommen beim Kehraus zusammen. Wen wundert’s, kehren ist in der Stadt schließlich kein Fremdwort.

Mit der Ordnung ist es am 11. August 1999 vorbei. 200.000 Menschen kommen um die Mittagszeit zum Schlossplatz. Alle Hotels sind ausgebucht, die Campingplätze hoffnungslos überlaufen. Und das alles wegen „Sofi“, der Sonnenfinsternis, die dann auch noch – vom Spott der überregionalen Fernsehteams begleitet – ins Wasser fällt. Dennoch gilt der Tag als Initialzündung. Seither dürfte klar sein, dass Stuttgart was zu bieten hat. Stürmisch verabschiedet sich das alte Jahrtausend. Mit einer Windstärke von mehr als 118 Stundenkilometern braust Lothar über Stuttgart hinweg. Die Spaziergänger trauen kaum ihren Augen: Der schlimmste Sturm seit 1945 hat aus ihrem Wald ein Sicherheitsrisiko gemacht. Ein stürmischer Schluss für ein stürmisches Jahrzehnt.

Dieser Text entstand im Rahmen der StZ-Geschichtswerkstatt „Von Zeit zu Zeit“ im Jahr 2008.

Geschichtswerkstatt „Von Zeit zu Zeit“

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