Stuttgart - Vor hundert Jahren war noch alles anders. Im September 1918 hatte Deutschland noch einen Kaiser, obwohl dieser sich eher wie die Marionette seiner Generäle benahm: ein schnauzbärtiger Herr mit viel Lametta an der Uniform, dessen engste Mitarbeiter sich bisweilen wie in einer „Provinzialirrenanstalt“ vorkamen. Wilhelm II. schwadronierte von glorreichen Siegen, während seine Armee schon besiegt war und seine Untertanen nichts mehr als Frieden herbeisehnten. Sechs Wochen später war der Erste Weltkrieg beendet und jener Herr ein Mann von gestern. Vor hundert Jahren begann für uns Deutsche das Zeitalter der Demokratie.
Wenn es die DDR noch gäbe und sie noch Geld zu verpulvern hätte, dann wäre jetzt wohl ein großes Feuerwerk in Ost-Berlin geplant. Die Bundesregierung hat nichts dergleichen vor. Zu den Treppenwitzen unserer Geschichte zählt der Umstand, dass die Novemberrevolution von 1918 bei denen hoch im Kurs stand, deren sozialistische Blütenträume damals beerdigt wurden. Im Westen hingegen ist der Umsturz vor hundert Jahren eine weitgehend vergessene Revolution geblieben.
Keine ungelernte, aber eine ungeliebte Demokratie
In mancherlei Hinsicht war das auch keine Revolution, sondern der Versuch, eine Revolution durch eine taktisch geschickte Fensterrede zu verhindern. Die hielt der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann. Durch sein Wort wurde Deutschland zur Republik. Von seinem Parteichef, dem späteren Reichspräsidenten Friedrich Ebert, musste er sich dafür rüffeln lassen. Es war keine ungelernte, aber eine ungeliebte Demokratie, die sich damals etablierte. Die Zeit der gekrönten Häupter war vorbei. Aus Untertanen wurden Bürger. Fortan durften auch Frauen wählen. Aus den Ruinen des Ersten Weltkriegs erwuchs das Fundament eines modernen Sozialstaats.
Eigentlich gäbe es viele Gründe, jene Epochenwende zu feiern: die erste allein dem Volk verpflichtete Verfassung, eine dem Parlament und letztlich den Wählern verantwortliche Regierung, bürgerliche Freiheiten, verbriefte Grundrechte. Doch die Weimarer Republik, die seinerzeit aus der Taufe gehoben wurde, zählt zu den schwierigen Kapiteln deutscher Geschichte. Sie mündete in eine Katastrophe.
Sehnsucht nach dem starken Staat
Das musste nicht zwangsläufig so kommen. Eigentlich ging es während der Premiere der Demokratie auf deutschem Boden noch ein bisschen demokratischer zu als heute – zumindest auf eine Weise, wie es links und rechts modern geworden ist, Demokratie zu verstehen. Das Volk hatte in der Weimarer Republik mehr zu entscheiden als in der Bundesrepublik. Es durfte über große Fragen selbst abstimmen und auch den Präsidenten direkt wählen. Weimar scheiterte nicht an einem Mangel an demokratischen Optionen, sondern an einem Mangel an überzeugten Demokraten. Die Gesellschaft war tief gespalten, der öffentliche Diskurs von Hetze und Rücksichtslosigkeit geprägt. Gesinnung stand höher im Kurs als Verantwortung. Das Parteiengefüge zerfaserte. Der Wille zum Konsens kam rasch aus der Mode. Verhinderungsmehrheiten formierten sich schneller als regierungswillige Koalitionen. Der Untergang des Abendlandes wurde schon damals heraufbeschworen. Aus Unsicherheit keimte eine Sehnsucht nach Ordnung, nach einem starken Staat. Wachsende Kreise träumten alsbald von einer Revolution, welche die Errungenschaften der Revolution von 1918 unterpflügen sollte. Die verlief dann alles andere als friedlich.
Mit der Erinnerung an jene Anfänge, die 1933 ein übles Ende nahmen, erwachen die Gespenster unserer Vergangenheit. Die geistern auch durch aktuelle politische Auseinandersetzungen. Doch Weimar wird sich nicht einfach wiederholen. Geschichte folgt nicht dem Drehbuch einer History-Serie. Wer in der Rückschau die Schattenseiten der Gegenwart wiedererkennt, darf sich allerdings gewarnt fühlen.