Am 29. Oktober 1996 erschien das Album „Kopfnicker“ von Massive Töne, für viele bis heute eines der besten deutschen Hip-Hop-Alben. Wasilios Ntuanoglu erklärt, wie eine LP aus Stuttgart das Lebensgefühl einer ganzen Generation einfangen konnte.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Wer in den 90ern popkultuell sozialisiert wurde und die zweite Hälfte der Dekade in Stuttgart verbrachte, wurde Zeuge einer kleinen Revolution: Eine der bis dato langweiligsten deutschen Städte wurde erobert durch einen Hip-Hop-Zusammenschluss namens Kolchose. Dessen Protagonisten Massive Töne, Afrob oder Freundeskreis lieferten auf einmal den Soundtrack zum Lebensgefühl einer Generation, die weniger am Intellekt der Hamburger Schule interessiert war, als daran, mittwochs im Inner Rhythm an der Theodor-Heuss-Straße zu feiern, als diese Straße noch eine reine Stadtautobahn war. Freitags ging es weiter auf dem Pragsattel im 0711 Club, wo die Nummernschilder bezeugten, dass die Gäste aus München oder Hamburg angereist waren, nur um eine Nacht lang zum Sound von Stuttgart zu nicken.

 

Auch wenn der Freundeskreis um Max Herre später vielleicht kommerziell erfolgreicher wurde, lieferte eine andere Band einen Meilenstein der Deutsch-Rap-Geschichte ab, der stilbildend wurde für Hip-Hop aus Stuttgart, ein Album, auf das Genre-Vertreter aus anderen Städten anerkennend schauten. Die Rede ist vom Album Kopfnicker von Massive Töne, das heute vor 20 Jahren, am 29. Oktober 1996 erschienen ist.

Die bis heute beste Rap-Hymne auf Stuttgart findet sich auf dem Kopfnicker-Album

Mit dem Titel des Albums lieferten die Massiven zugleich das Synonym für eine ganze Bewegung, für die „Kopfnicker-Ära“, später sollte auch das hauseigene Plattenlabel Kopfnicker Records heißen. Außerdem beinhaltete die Platte die bis heute beste Rap-Hymne, die je auf Stuttgart gedichtet wurde. Heute 40-Jährige müssen noch immer weinen, wenn sie die ersten Takte des Songs und den folgenden Text hören, der so viele Bezüge zum Stuttgart der 90er herstellt und so viele Orte würdigt, die damals zu Koordinaten der Popkultur wurden:

„Willkommen in der Mutterstadt, der Motorstadt am Neckar, Mekka für Rapper, zu viele meckern. /

Ich hass’ den Banker, der beim Keplerstrassen-Checker n Päckchen Gras sucht, abends gediegen in Paul’s Boutique mit dem Sektglas groovt /

und sagt, dass er seine Stadt eigentlich gar nicht mag. Er kenne Wien, kenne Prag und müsse endlich fliehen und nach Berlin ziehen. /

Stuttgart sei für ihn nur kulturelles Brachland. Brachland? Haste noch alle Tassen im Schrank? /

Ich mach’ meinen Urlaub hier, nicht mit der LTU, ich setz’ mich in die U 6 bis zum Schlossplatz, /

hol’ mir beim Udo Snacks oder Falafel, beim Vegi Voodoo schmeckt’s, dazu Stuttgarter Hofbräu, mein Homie Max trinkt Becks. /

...

Eins für den Rap, zwei für die Bewegung, von klein auf geprägt durch die Umgebung! /

Es ist nicht, wo Du bist, es ist, was Du machst: Herzlich willkommen in der Mutterstadt.“

Wasi: „Ethnien, Sozialisation, Alter, Geschlecht – das war alles egal“

Massive Töne bestanden damals aus den Rappern João dos Santos alias Ju, Jean-Christoph Ritter alias Schowi, Wasilios Ntuanoglu, besser bekannt als Wasi und DJ 5Ter Ton, Alexander Scheffel. Das Kopfnicker-Album wurde maßgeblich von Wasilios Ntuanoglu produziert, der später die Band verließ und in diesem Jahr mit den „Lost Tapes“ sein unerwartetes Comeback gefeiert hat. Wie hat Wasi die 90er Jahre in Stuttgart erlebt? „Für einen Querkopf wie mich war Stuttgart mit Anfang 20 voller Widerstände und Hürden. Wir wurden aber schnell sicherer, weil wir so viele wurden, die sich untereinander einig waren. Ethnien, Sozialisation, Alter, Geschlecht – das war alles egal“, erinnert sich Wasi.

Die Rap-Szene habe sich rasant entwickelt damals, durch die permanente Konkurrenz sei man gezwungen gewesen, immer wieder Neues zu liefern. Und wie nimmt er sein Stuttgart 20 Jahre später war? „Das gesellschaftliche Leben in Stuttgart war schon immer durchsetzt von einem Denken in Wertschöpfungsketten.Was bringt es mir? Was bekomme ich dafür? Wieviel Arbeit ist es? Neu hinzu gekommen ist vielleicht der Faktor ,Was bringt es dem Standort?`, sagt Wasilios Ntuanoglu.

Spracherneuerung aus Stuttgart

Bezogen auf die Musik hat sich Stuttgart in seinen Augen enorm weiterentwickelt: „Rap oder Hip-Hop mit all seinen Strängen und Verzweigungen ist längst im Mainstream angekommen. Aber das ist ja auch nichts Neues. Es gibt eine große Veranstaltungslandschaft in Stuttgart und dank eines bemerkenswerten Pluralismus eine Ausgehkultur, die man nirgendwo anders in Deutschland findet.“

Viele sehen heute im Output von Massive Töne und den anderen Stuttgarter Protagonisten auch eine Erneuerung der deutschen Sprache – und das in einer Region, die bis dahin nur für ihren heftigen Dialekt bekannt war: „Es ging uns darum, die deutsche Sprache umzubauen, sodass sie weicher wird – Neologismen zu entwickeln, die annehmbar waren“, erinnert sich Wasi.

Den Bausparvertrag gekündigt und die Lehre geschmissen für das Kopfnicker-Album

Auch bei der Produktion von Kopfnicker wollte Wasi Maßstäbe setzen: „Die Kopfnicker-Beats waren meine ersten, entstanden zuhause in der Helmstettstraße in Feuerbach. In einem Produktionswahn, der mich damals immer wieder phasenweise erfasst hat.“ Der Klang des Albums ist sicherlich auch den besonderen Lebensumständen seiner Protagonisten geschuldet, einer Phase, in der die Bandmitglieder den Abschluss ihrer Adoleszenz durchlebten: „Ich hatte beim Breuninger meine Lehre geschmissen, meinen Bausparvertrag gekündigt und mir von Don Philippe den Akai S950 gekauft. Schowi und Ju waren mitten im Abistress“, erinnert sich Wasi.

Schließlich fanden bei DJ Friction und Philippe vom Freundeskreis im Nose Studio die ersten Aufnahmen statt. „Natürlich hat jeder sein eigenes jugendliches emotionales Chaos dorthin mitgebracht. Alle unter Strom, das Studio und jeder, der sich darin befand, dementsprechend unter Dauerfeuer.“ Über Stuttgart als Mutterstadt des Raps und die Orte, die längst zur Legende geworden sind, wie eben der 0711 Club, sagt Wasi in der Rückschau: „Wenn ich heute darüber nachdenke, habe ich dieses Bild im Kopf, wie wir nach getaner Arbeit in den Club eintanzten, über die Lautsprecher lief Biggi „One more Chance“, wir klatschten mit allen ab und fühlten uns high.“

Die Bandmitglieder sind heute in Lissabon und Berlin zuhause – und in Stuttgart

Und was machen die Protagonisten heute? Wasilios Ntuanoglu feierte in diesem Jahr ein unerwartetes Comeback, das er aber selbst nicht so bezeichnen würde („Ich habe eigentlich nur alte Beats rausgeballert“). Dazu arbeitet er als Dozent: „An der Popakademie Baden-Württemberg in Mannheim habe ich im Studiengang Musikbusiness Projekte mit Studenten realisiert und werde dieses Wintersemester im Masterstudiengang Popular Music als Gastdozent ein Seminar leiten.“

João dos Santos lebt mittlerweile mit seiner Familie in Lissabon, in den vergangenen Jahren machte er vor allem zu EM und WM als Mister Santos auf sich aufmerksam. Jean-Christoph Ritter hat seinen Lebensmittelpunkt in Kreuzberg und reguliert von dort aus das Berliner Nachtleben mit. Und Alexander Scheffel? Der legt als DJ 5Ter Ton noch immer so zuverlässig wie ein Daimler-Motto in den Clubs von Stuttgart auf, Wochenende für Wochenende. An einem guten Abend spielt er dann einen Song, der mit der folgenden Zeile beginnt: „Willkommen in der Mutterstadt, der Motorstadt am Neckar, Mekka für Rapper, zu viele meckern...“