Hans-Dieter Weinert hat vor 30 Jahren eine Gasexplosion überlebt. Ein Zweifamilienhaus in Echterdingen fiel damals wie ein Kartenhaus zusammen. Heute erinnert er sich lebhaft an die Ereignisse von damals.

Echterdingen - Hans-Dieter Weinert blättert in einem weißen Fotoalbum. Das Buch hat Jahrzehnte auf dem Buckel. Einzelne Bilder haben sich gelöst. Er muss beim Blättern vorsichtig sein, dass sie nicht herausfallen. Der Band wirkt aber nicht abgegriffen, vielmehr gut behütet. Die Mutter von Weinert hat das Album einst zusammengestellt – als Erinnerung an jene Nacht, als ihr Sohn fast das Leben verlor. Fein säuberlich hat sie sämtliche Artikel darin eingeklebt, die am 20. Oktober 1988 in unterschiedlichen Zeitungen erschienen sind. Dazu hat sie private Fotos eingeheftet. Diese zeigen die Trümmer eines Hauses, unter denen der damals 33-Jährige gefunden wurde.

 

Der heute 63-Jährige nimmt das Buch eigentlich nie in die Hand. „Ich habe das ganze Ereignis abgelegt“, sagt er. Nur manchmal träumt er noch von der kleinen Einliegerwohnung an der Waldenbucher Straße 5, in der er einst gelebt hat. Ab und an kommen die Erinnerungen hoch. Zuletzt Mitte Februar, als in der Presse von einem Gasaustritt in Echterdingen und der Evakuierung von 88 Menschen zu lesen war. Da hat Hans-Dieter Weinert das Album aus dem Regal gezogen und sich entschlossen, seine Geschichte zu erzählen.

Ein mächtiger Schutzengel muss in jener Nacht über ihn gewacht haben. Eine gewaltige Gasexplosion hat den Mann im Oktober vor 30 Jahren aus dem zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses geschleudert. Das Gebäude, das bis dato an der Waldenbucher Straße stand, stürzte – innerhalb von Sekunden – wie ein Kartenhaus zusammen. Viele Häuser in der Umgebung wurden beschädigt. Der Sachschaden lag in Millionenhöhe. Sämtliche Erinnerungsstücke an die Jugend von Hans-Dieter Weinert gingen in die Luft. „Vom Teelöffel bis zu Büchern – alles Müll“, sagt er.

So laut wie ein abstürzendes Flugzeug

Der Krach – der sich laut Nachbarn wie ein abstürzendes Flugzeug angehört hat – soll in der Nacht zum 19. Oktober kilometerweit zu hören gewesen sein. „Hunderte von Bürgern wurden um 2.27 Uhr aus dem Schlaf gerissen. Teile der nahen Ortsdurchfahrt waren mit Dachziegeln und Bausteinen übersät“, veröffentlicht die Filder-Zeitung einen Tag später. Viel später wird festgestellt, dass ein Isolierstück gebrochen war und so Gas aus der Hauptleitung austreten konnte. „Das ganze Haus war voll mit Gas“, sagt Hans-Dieter Weinert heute. „Wie eine Bombe.“

Warum genau es dann zur Explosion kam, ist bis heute ungeklärt. „Das Zentrum der Explosion lag im Wohnbereich, vermutlich auch die Zündquelle“, heißt es später in einem Gutachten. Eine Vermutung ist, dass Licht im Bad angemacht wurde. Auch Hans-Dieter Weinert stand zunächst unter Verdacht. „Ich habe aber tief und fest geschlafen“, sagt er.

Erika Jokel – die Hauseigentümerin – hatte weniger Glück als Weinert. 14 Tage lang hat sie im Krankenhaus um ihr Leben gekämpft – und diesen Kampf schlussendlich verloren.

Lebensretter bekamen später Rettungsmedaille

„Ein Herr mit seinen zwei Söhnen“, wie Weinert sagt, hat die beiden schwer verletzt aus Trümmern gezogen. „Das waren meine Lebensretter“, sagt Weinert. Die Familie wurde später mit der Rettungsmedaille des Landes ausgezeichnet. Der damals 33-Jährige lag „unter dem Gestein des Garagenanbaus, wohin ihn offenbar die starke Druckwelle geschleudert hat“, stand in der Filder-Zeitung. Er selbst hat keinerlei Erinnerung an das Unglück. „Ich bin in der Filderklinik aufgewacht – auf einer Trage, die in Richtung Operationssaal geschoben wurde“, sagt er. Die Ärzte haben bei ihm eine schwere Gehirnerschütterung sowie multiple Knochenbrüche diagnostiziert. „Beide Beine und auch der Kiefer waren gebrochen“, sagt er. Manchmal, wenn das Wetter umschlägt, tun ihm die Zehen heute noch weh – sie waren ebenfalls bei dem Unglück zertrümmert worden.

Seine Eltern hatten im Radio von dem Unfall erfahren. „Meine Mutter ist mit dem Rad zum Unglücksort gefahren, die Polizei hat sie dort in Empfang genommen.“ Es waren auch seine Eltern, die ihm zunächst Unterschlupf geboten haben. Ein halbes Jahr konnte der Mann nicht laufen. Er musste mit dem Rollstuhl herumgefahren werden. „Meine Eltern haben mich wieder auf die Beine gebracht“, sagt er. Eine Reha hatte er verweigert, denn er wollte nicht noch länger in Krankenhäusern zubringen. Später hat er durch Anzeigen, welche die Stadt und die evangelische Kirchengemeinde geschaltet haben, wieder eine kleine Wohnung gefunden.

Das Leben zum zweiten Mal geschenkt bekommen

Der Mann – der einst Romanistik und Germanistik studiert hat und promovieren wollte – hat nach dem Unglück eine Umschulung gemacht. Er wurde Kaufmann für Groß- und Außenhandel. „Es war Zeit, Geld zu verdienen“, sagt er. Hans-Dieter Weinert ist wieder in die evangelische Kirche eingetreten. Jedes Jahr im Oktober hat er fortan von seiner Mutter und seinem Vater ein Präsent erhalten – weil er in jener Nacht zum zweiten Mal das Leben geschenkt bekommen hat.