Vor 80 Jahren über Fellbach Erster Düsendonner über dem Kappelberg
Im August 1944 schrecken zwei Jugendliche aus Fellbach wegen eines bis dahin nie gehörten Lärms über der Stadt auf. Ihre Beobachtung ist aus mehreren Gründen bemerkenswert.
Im August 1944 schrecken zwei Jugendliche aus Fellbach wegen eines bis dahin nie gehörten Lärms über der Stadt auf. Ihre Beobachtung ist aus mehreren Gründen bemerkenswert.
August 1944. Europa befindet sich im Krieg, Hitler-Deutschland ist in der Defensive. Seit einiger Zeit wird auch die Region um Stuttgart immer wieder zum Ziel alliierter Luftangriffe. Paul Bergmann und Peter Hetz, zwei befreundete Jungen aus Fellbach, die an diesem Tag draußen spielen, sind also auf der Hut. Plötzlich ertönt ein ohrenbetäubender Lärm, der, wie der damals 13-jährige Paul Bergmann in seinem Tagebuch festhält, „uns in Deckung auf den Straßenboden fallen ließ“. Er beschreibt das Geräusch „wie Rasseln, Zischen und Scheppern zugleich“. Ein großer Schatten zischte über die Jugendlichen hinweg.
Die Beobachtung, die die Freunde damals gemacht haben, war aus gleich mehreren Gründen außergewöhnlich. Zum einen wegen des Fluggeräts an sich. Es handelte sich um eine Messerschmitt Me 262, den ersten in Serie gefertigten Düsenjäger der Welt. Das Geräusch von Strahltriebwerken ist heutzutage quasi allgegenwärtig. Damals, zu Zeiten, in denen sowohl Passagierflugzeuge als auch Kampfflieger von Propellern angetrieben wurden, war es eine absolute Seltenheit. Auch alliierte Kampfpiloten waren beunruhigt von dem unglaublich schnellen Flugzeug mit den markanten Triebwerksgondeln unter den Tragflächen.
Die Luftwaffe der Wehrmacht setzte große Hoffnungen in den Jet beim Versuch, den von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkrieg zu eigenen Gunsten zu wenden. Immerhin war das Flugzeug durch seinen Antrieb rund 400 Stundenkilometer schneller als alliierte Bomber und immer noch 100 km/h schneller als deren Eskorte.
Um Nazideutschland den Sieg zu ebnen, war es freilich zu spät. Was unter anderem daran lag, dass die Düsentriebwerke des Fliegers erst spät verfügbar waren. Die Fertigungsstätten der vermeintlichen Wunderwaffe wurden zudem von alliierten Bombenangriffen getroffen, was zur Folge hatte, dass die Endmontage unter anderem in Schwäbisch Hall stattfand. Dort befand sich nicht nur ein Fliegerhorst der Reichsluftwaffe, sondern ab April 1944 auch ein getarntes Werk, in dem die Düsenjäger unter dem Decknamen „Autobedarf“ zusammengebaut wurden. Zum Jahreswechsel Ende 1944 war aber auch damit Schluss, alliierte Bombenangriffe zerstörten den Fliegerhorst. Zum anderen, das erfuhr Bergmann später, machte aber auch eine Personalie die Beobachtung an Fellbachs Himmel zu etwas Besonderem. Am Steuer des Ur-Düsenjägers saß ein Testpilot namens Helmut Hetz, der Bruder von Paul Bergmanns Freund. Der Düsenjäger war – mutmaßlich in Schwäbisch Hall – zu einem Probeflug gestartet. Ob Fellbach offiziell auf der Route lag oder ob der Pilot über seinem Heimatort Runden drehen wollte, ist nicht bekannt. Für Letzteres spricht die Beobachtung der beiden Jungen: „Die Maschine flog noch zweimal von Osten kommend über unsere Häuser an der Pauluskirche hinweg“, notierte der Teenager Paul Bergmann in seinem Tagebuch. Offenbar flog der Testpilot also beim Einfliegen des neuen Flugzeugs dreimal über sein Elternhaus.
Weniger als ein Jahr später war der Krieg zu Ende. Pilot Helmut Hetz wurde als Gefangener in die USA gebracht – möglicherweise, weil er als Testpilot ein umfassendes Wissen über Waffensysteme hatte und über Technologien der Luftwaffe Bescheid wusste. Hetz machte dort später Karriere als Linienpilot.
Wie einschlägige Zeitungsberichte aus dieser Zeit zeigten, kam Helmut Hetz bei seiner Arbeit für Eastern Airlines auch mit einstigen Feinden in Kontakt: amerikanischen Piloten, die im Krieg geflogen waren und nun wie er regulär Reisende durch die Luft beförderten. In friedlicher Mission – aber auch mit Düsenantrieb.
Antrieb
Bereits 1910 gab es in Rumänien ein Flugzeug mit einer Art Düsentriebwerk – dieses stürzte jedoch ab. Von 1939 an experimentierten Deutschland, Italien und Großbritannien mit Versuchsjets. Die Messerschmitt Me 262 war ab 1943 der erste in Serie gefertigte Düsenjäger. Die zivile Luftfahrt profitierte erst ab 1949 mit der De Havilland Comet von dem neuen Antrieb.
Me 262
Das von der Messerschmitt AG entwickelte Flugzeug erreichte eine bis dato unerreichte Höchstgeschwindigkeit von mehr als 850 Stundenkilometern. Es war als Abfangjäger ausgelegt. Adolf Hitler schwebte ein Einsatz als Bomber vor, obwohl die Me 262 dafür aus mehreren Gründen kaum geeignet war.