Vor dem Formel-1-Rennen in Imola Was sind die Gründe für Sebastian Vettels Krise?

Sebastian Vettel mit ernster Miene: Bei dem viermaligen Formel-1-Weltmeister und seinem Team Aston Martin läuft es überhaupt nicht. Was sind die Gründe? Foto: imago/n/ordphoto GmbH/Bratic

Der viermalige Formel-1-Weltmeister ist mit Aston Martin schwach in die Saison gestartet. Nun wird über seinen baldigen Abschied aus dem Rennzirkus spekuliert. Ein Mann legt ihm diesen ganz unverblümt ans Herz.

Sport: Jürgen Kemmner (jük)

Man kann freundliche Worte finden, um einen viermaligen Formel-1-Weltmeister in seinem Reich zu begrüßen. Man muss aber nicht, dürfte sich Giancarlo Minardi gesagt haben, als der Italiener dem Blatt „Corriere della Sera“ kürzlich ein Interview gab. „Sebastian Vettel sollte sich zurückziehen“, meinte der 74-Jährige, „er hat viel Geld, er hat viele Titel gewonnen – und er wird keine mehr gewinnen.“

 

Vettel verpasste die ersten beiden Rennen wegen einer Corona-Infektion

An diesem Sonntag (15 Uhr/RTL) findet der Große Preis der Emilia Romagna in Imola statt, Signore Minardi ist als Präsident der Rennstrecke „Autodromo Dino e Enzo Ferrari“ oberster Gastgeber, was ihn nicht davon abhält, Vettel den baldigen Rücktritt nahezulegen. Minardi hatte 1985 einen Formel-1-Rennstall gegründet, der zwar über die Jahre bis 2005 beharrlich hinterherfuhr, dennoch gilt er als Entdecker von Giancarlo Fisichella, Jarno Trulli und Doppelweltmeister Fernando Alonso, er darf für sich fraglos in Anspruch nehmen, er erkenne, was in einem Rennfahrer steckt. Ganz gleich, ob der erst U 20 oder schon Ü 30 ist.

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Minardi hat sich nicht die Karten legen lassen, um diese Einschätzung abzugeben, es genügte ihm, eine Bestandsaufnahme über die Entwicklung des Heppenheimers und dessen Rennstalls Aston Martin vorzunehmen. Vettel verpasste die ersten beiden Saisonrennen wegen einer Corona-Infektion, bei der Premiere 2022 in Australien versagte am Freitag der Antrieb im Training, danach baute er am Samstag einen Unfall und ließ im Rennen (Startplatz 17) den nächsten folgen, wofür Ex-Rennfahrer Marc Surer die Note 6 auf einer Internetplattform erteilte. „Noch schlimmer kann es nicht werden“, sagte Vettel nach dem Grand Prix in Melbourne ziemlich desillusioniert, womit er wahrscheinlich richtig liegt.

Aston Martin ist das einzige Team, das auf dem Punktekonto so blank wie ein FKK-Urlauber dasteht

Wo klemmt’s beim viermaligen Champion, der seit seinem Einstieg bei Aston Martin zur Saison 2021 abgesehen von Platz zwei in Aserbaidschan weit unter dem Radar der internationalen Wahrnehmung herumkurvt? Fehlt der letzte Biss? Oder fehlt dem 34-Jährigen der Zündfunke bei der Motivation? Nicht unbedingt, glaubt zumindest Marc Surer. Der Schweizer hat bei Vettel gar eine „Übermotivation“ in Australien festgestellt, weil „er mehr wollte, als das Auto hergab“, und es deshalb zum Crash im Rennen kam. „Aber er ist auch noch nicht in Topform“, stichelte Surer. Von einem wie Vettel erwartet die Formel-1-Gemeinde zwar keine Wunder rund um die Osterzeit, aber zumindest dass er ein lahmendes Fahrzeug zum Gehen bringt.

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Das ist leichter gefordert als eingelöst. Wie ein Jockey von den Genen seines Rennpferdes abhängig ist, so ist es der Formel-1-Pilot von der Technik seines Autos, was Lewis Hamilton derzeit anschaulich belegt, weil der schwächelnde Rekordweltmeister im Winter ja nicht plötzlich vergessen hat, wie man im Mercedes effektiv Gas gibt und bremst. An den Aston Martin von Vettel und Teamkollege Lance Stroll hängt die Rote Laterne, der Rennstall ist der einzige in dieser Saison, der auf dem Punktekonto so blank wie ein FKK-Urlauber dasteht – nach der Regeländerung haben selbst die einstigen Hinterbänkler Haas und Williams mit den neu entwickelten Boliden überholt.

Je länger Aston Martin hinterherfährt, umso wahrscheinlicher wird Vettels Abschied

Vettels Fahrzeug, da sind sich Experten einig, baut zu wenig Haftung auf, weshalb es zu unruhig auf der Strecke liegt. „Wir müssen uns überlegen, welches Auto wir ihm zur Verfügung stellen, welches Feedback er vom Auto bekommt“, sagte Teamchef Mike Krack in Melbourne, „das ist nicht normal, wenn Seb so weit zurückliegt wie an diesem Wochenende.“ Nicht nur Vettel, auch der Luxemburger steht unter Erfolgsdruck – bei keinem anderen Team liegen Erwartungen und Realität so weit auseinander wie beim britischen Rennstall. Es muss sich für Sebastian Vettel anfühlen, als habe er seine erfolgreiche Ära bei Red Bull mit vier WM-Triumphen in einem anderen Leben gefeiert, dabei ist sein letzter Titel lediglich neun Jahre her.

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Die Ingenieure von Aston Martin sind gefordert, denn nicht nur Surer vermutet, dass der erfolglose Heppenheimer sonst bald die innere Kündigung vollziehen könnte. „Wenn Vettel merkt, dass er nicht schneller wird, sehe ich schwarz“, meinte der 70-Jährige. Der Champion der Jahre 2010 bis 2013 hat oft unterstrichen, er mache nach 2022 nur weiter, wenn er ein konkurrenzfähiges Auto besitze. „Wenn ich den Antrieb und Ehrgeiz nicht mehr spüre und nur dabeibleibe, um Nachrichten zu vermitteln oder den Kontostand zu erhöhen“, sagte er im Dezember, „wäre das ein Verrat an der Generation, die noch kommt.“ Ergo: Je länger Aston Martin hinterherfährt, umso wahrscheinlicher wird Vettels Abschied. Denn der Heppenheimer ist einer, der sich nicht allein über seinen Beruf definiert, er äußert sich zu Themen wie dem Ukraine-Krieg und der Klimakrise, ist Botschafter für Nachhaltigkeit, dazu hat er Frau und Kinder zu Hause – Vettel würde ohne Motorsport in keine Sinnkrise stürzen. Und dann wäre da ja auch noch der väterliche Rat von Giancarlo Minardi.

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