Bundeskanzlerin Angela Merkel hat einen europäischen Lösungsansatz für den Asylstreit mit der CSU geliefert – ob das genügen wird, weiß sie selbst nicht.

Berlin - Die Paketbotin hat sich bemüht und geliefert. Sie hat die Eilsendung aus Brüssel fristgerecht überstellt. Trotzdem kann sie sich nicht sicher sein, ob der Empfänger in München zufrieden ist. Vielleicht gefällt den Bayern der europäische Inhalt, vielleicht nicht. Ob sie sich beschweren und den Aufstand proben, entscheidet sich an diesem Wochenende – und mindestens so lange muss die Paketbotin Angela Merkel noch um ihre Regierung und ihren Job bangen. Es ist Frühstückszeit am Freitagmorgen, als die Kanzlerin nach durchverhandelter Nacht vor die Mikrofone tritt. „Ich bin optimistisch nach dem heutigen Tag, dass wir jetzt weiter arbeiten können, obwohl wir noch viel zu tun haben, um die verschiedenen Sichtweisen zu überbrücken.“ Sie spricht über Europas Flüchtlingspolitik, der Satz könnte aber auf die CSU gemünzt sein, die ihr zuhause in Berlin das Leben schwer macht. Noch am Abend, unmittelbar nach ihrer Rückkehr, hat sie ihren Innenminister Horst Seehofer über das in Brüssel Erreichte informieren wollen.

 

Die CDU-Kanzlerin hat diesen vielleicht wichtigsten EU-Gipfel ihrer Amtszeit, dessen Ergebnisse den Asylstreit mit der Schwesterpartei beilegen sollen, in großer Einsamkeit begonnen. Die Kameras können sie nicht einfangen, als sie die ersten Meter des roten Teppichs im Brüsseler Ratsgebäude betritt. Und da steht sie nun ganz allein, schaut sich um und wartet minutenlang, bis weiter vorne der Franzose Emmanuel Macron sein Rendezvous mit den Journalisten beendet. Merkel will die volle Aufmerksamkeit für das, was sie zu sagen hat. In diesen Tagen, die über ihre politische Zukunft entscheiden, muss schließlich jeder Auftritt sitzen.

Merkels Taktik ist aufgegangen: selbst der neokonservative Sebastian Kurz schwärmt

Ihre Botschaft hat erst einmal wenig mit den Zurückweisungen an der Grenze zu tun, die ihr Innenminister Seehofer nach dem Wochenende im nationalen Alleingang anordnen will, wenn sie, Merkel, nicht mit einer „wirkungsgleichen“ europäischen Alternative um die Ecke kommt. Lieber redet die Kanzlerin darüber, dass der Schutz der EU-Außengrenze schneller als geplant von einer echten europäischen Grenzpolizei erledigt werden muss. Und sie hat auch nichts gegen „Seeanlandungen“ in Nordafrika, wenn die Länder dort einverstanden wären. Das heißt nichts weniger, als dass im Mittelmeer aufgegriffene oder gerettete Bootsflüchtlinge nicht mehr in Europa an Land gingen, sondern zurückgebracht würden. Das ist vor allem ein Wink an die in dieser Frage knüppelharten Österreicher, Ungarn und Italiener, deren Mithilfe Merkel im Fall Seehofer braucht.

Und ihre Taktik ist zumindest teilweise aufgegangen. Selbst der neokonservative Wiener Bundeskanzler Sebastian Kurz, den Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder der Kanzlerin als Wahlkampfunterstützung vorzieht, schwärmt, dass es „endlich einen Fokus auf die Außengrenze gibt“ und „in einigen Staaten ein Umdenken stattgefunden hat“. Er nennt nicht Merkels Namen, aber er lässt sich leicht dazu denken. Ob es Zufall ist, dass Österreichs Innenminister kurz zuvor Zurückweisungen à la Seehofer für rechtswidrig erklärt hat? Man mag es kaum glauben, beim Einsatz, den Angela Merkel in dieser für sie entscheidenden Phase an den Tag legt.

Merkel sagt, sie habe die „Zeit maximal ausgeschöpft“

„Die Kanzlerin ackert“, heißt es in ihrem Umfeld. Seit sie vor zwei Wochen versprochen hat, bis zum EU-Gipfel etwas hinzubekommen, das eine ähnliche Wirkung entfalten kann wie Seehofers „Masterplan“, arbeitet sie unermüdlich. Später wird sie von „intensivsten Verhandlungen“ sprechen und davon, dass sie die kurze „Zeit maximal ausgeschöpft“ und „kein Mangel an Effizienz“ geherrscht habe.

Angela Merkel hat ihren politischen Freund Jean-Claude Juncker aktiviert, der als EU-Kommissionschef am Sonntag zu einem Asyl-Minigipfel nach Brüssel lud, wo mit einigen willigen Staaten bilaterale Abkommen vorbesprochen wurden. Damit sollen Rücküberstellungen von Asylbewerbern quasi automatisch erfolgen – was Seehofers direkten Zurückweisungen sehr nahe käme. Und Merkel hat vor einer Woche über ihren anderen Brüsseler Verbündeten Donald Tusk eine Passage in die Abschlusserklärung einfügen lassen, die alle Mitgliedstaaten zur engen Kooperation bei der Rücküberstellung verpflichtet. „Im Europäischen Rat müssen wir gemeinsam vorankommen“, sagt einer aus dem Umfeld des polnischen EU-Ratschefs, „es geht aber auch darum, einander bei Problemen zuhause zu helfen“. Zumal kaum etwas Europas Staatenlenker mehr schreckt als politische Instabilität im größten Mitgliedsland.

Das größte Hindernis im Nachtmarathon stellt Roms neuer Ministerpräsident dar

Die Kanzlerin hat die Karten also schon vor Gipfelbeginn gelegt, wie sich in Brüssel herausstellt. Am Rande des Treffens muss sie die Zusagen für Verhandlungen, die ihr Innenminister Seehofer führen müsste, nur noch einsammeln. Aus den Niederlanden, Frankreich, Luxemburg etwa. Am Freitagvormittag kommt Merkel mit Spaniens neuem Regierungschef Sanchez zusammen und Griechenlands Premier Tsipras, die ihr in diesem Punkt beispringen.

In den fast achtstündigen Marathonverhandlungen zur Migration geht es für Merkel somit „nur“ darum, das vorab Eingetütete über die Nacht zu retten. Das größte Hindernis auf diesem Weg stellt Roms neuer Ministerpräsident Giuseppe Conte dar. Er will um jeden Preis erreichen, dass die anderen EU-Staaten Flüchtlinge aufnehmen, die über das Mittelmeer nach Italien kommen – und blockiert deshalb Vereinbarungen zu ganz anderen Themen wie der Handelspolitik oder der künstlichen Intelligenz. Eine verpflichtende Verteilung aber wollen die vier Visegradstaaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn seit Jahren nicht. Also knirscht und kracht es gewaltig. In Kleingruppen werden immer neue Textfassungen entworfen, am Ende soll es EU-Aufnahmezentren auf freiwilliger Basis geben. Es ist 4.34 Uhr, als weißer Rauch aufsteigt und das Gesamtpaket mit den für Merkel so wichtigen Passagen steht.

Der Sturm bläst Angela Merkel seit zwei Wochen heftig ins Gesicht

Dass sie diesen enormen „Verhandlungsdruck“, wie sie selbst einräumt, verspürt hat, kann sie freilich nicht allein auf die CSU schieben. Angela Merkel hat den Sturm, der ihr seit zwei Wochen heftig ins Gesicht bläst, nicht kommen sehen. Beim G7-Gipfel in Kanada hat sie Seehofers Entwurf in der Tasche gehabt und sich genau überlegt, was sie zurück in Deutschland beim Sonntagabend-Talk mit Anne Will sagen würde, um nicht Öl ins Feuer zu gießen. Dass allein ihre Feststellung, dass es in puncto Zurückweisungen einen „Dissens“ gebe, ausreichte, um die halbe Unionsfraktion gegen sich aufzubringen und selbst überzeugte Merkelianer vom „Kommunikationsdefizit der Kanzlerin“ reden zu lassen, traf sie aus heiterem Himmel.

Spätestens da ist Angela Merkel klar geworden, dass es Seehofer, Söder und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt billigend in Kauf nehmen, dass ihre politische Stellung schweren Schaden nimmt. Merkel hat gehofft, sie hätte diese Attacken hinter sich gelassen, und sich getäuscht – entsprechend angefasst, verzweifelt und mürbe wirkte sie.

Die Gipfelbeschlüsse und die bilateralen Abkommen sind „mehr als wirkungsgleich“

Es hat ein wenig gedauert, um zurück in die Spur zu finden, um „die neue Lage für sich anzunehmen“, wie sie in ihrem Umfeld sagen. Seither jedoch streitet sie so energisch wie lange nicht für ihre europäische Sicht der Dinge. Anfang voriger Woche nach der CDU-Präsidiumssitzung, gerade erst im Bundestag. Sie hat umgeschaltet von Empörung auf Entschlossenheit. In diesem Sinne ist sie jetzt, nach aufreibenden zwei Wochen, zufrieden mit sich: „Das, was man erreichen kann in dieser Zeit, ist realisiert worden.“ Wenn die Gipfelbeschlüsse und die bilateralen Abkommen umgesetzt würden, wäre das – so ihre Botschaft in Richtung CSU – „mehr als wirkungsgleich“ zu dem, was Seehofer vorgeschlagen hat.

Die Kanzlerin verbirgt aber nicht, dass sie im Grunde genommen dennoch keine Ahnung hat, ob ihre Arbeit der bayerischen Schwester genügt. Das sei immer noch „sehr, sehr unsicher“, heißt es in Merkels Kanzleramt. Geht es überhaupt nicht um die Sache? Oder doch? Es gibt Gesprächsdrähte nach München, die am Wochenende vor Beginn der CSU-Sitzung am Sonntag um 15 Uhr glühen werden. Das gegenseitige Vertrauen aber ist längst dahin.