Yuriko Koike hat die Stadt Tokio, in der mittlerweile fast ein Drittel der Bevölkerung Japans lebt, in den letzten Jahren gut verwaltet. Mittlerweile hat die smarte Frau höhere Ambitionen.

Tokio - Shinjuku: Die Zwillingstürme, in der die Regentin dieser Riesenstadt ihr Büro hat, ragen hoch gen Himmel. Zwischen einem großzügigen Park auf der einen Straßenseite und dem hochmodernen Rathaus auf der anderen fahren ebenerdige Rolltreppen leise aus der Shinjuku-Station, dem größten Bahnhof der Welt. Am anderen Ende dieses gigantischen Bahnhofs liegen in den Nachtclubs und Karaokebars einige Hotspots für neue Infektionscluster.

 

Yuriko Koike, die amtierende Bürgermeisterin von Tokio, hat ihr Wahlkampfteam zum Drinnenbleiben angewiesen. „Ich werde weiterhin die Leben der Einwohner von Tokio schützen“, sagte sie vor einigen Tagen in einer Videoansprache von ihrem Büro aus. Das Fortkommen kleiner Betriebe in der Krise wolle sie sichern, zugleich die Neuinfektionszahlen aber so gering halten wie möglich. Und Tokio solle sich trotz der derzeitigen Einreisebeschränkungen weiter internationalisieren. Denn in einem Jahr, sofern die Krise dann unter Kontrolle ist, steigen hier die Olympischen Spiele.

Vor die Tür des Rathauses gehen muss sie nicht

All das verspricht die erste weibliche Bürgermeisterin der größten Metropole der Welt seit Wochen – ohne vor die Tür zu gehen. Den Straßenwahlkampf, das sagt sie in ihren Videoreden immer wieder, findet die 67-Jährige in Pandemiezeiten unverantwortlich. Die in Japan üblichen Touren durch die Stadt, wo die Politiker in der Regel mit Megafonen von fahrenden Autos aus zu den Passanten sprechen, überlässt sie ihren Widersachern. Ob da der linke Anwalt Kenji Utsunomiya die endgültige Absage der Olympischen Spiele fordert, weil diese zu teuer werden, oder der ebenfalls eher linke Ex-Schauspieler Taro Yamamoto zu den sozial Benachteiligten dieser Krise fährt: Yuriko Koike bleibt all dem fern.

„Unterstützen Sie auch diesmal Koike“, sagt sie zum Ende ihrer Ansprache, mit dem perfekten Lächeln einer anscheinend allseits kompetenten Ex-Journalistin. Koike weiß, dass die meisten Leute an diesen Sonntag ihrer Aufforderung wohl folgen werden. In Zeiten einer Krise, die unverschuldet hereingebrochen ist, haben Amtsinhaber oft die besseren Karten. Für die politisch konservative und ökonomisch liberale Koike gilt das besonders.

Als Anfang des Jahres das neuartige Coronavirus um sich griff, schaute der rechtskonservative Premierminister Shinzo Abe lange Zeit zu, ohne relevante Schritte einzuleiten. Verspätet rief er den nationalen Ausnahmezustand aus, wodurch die Gouverneure der jeweiligen Präfekturen zu regionalen Ausgangssperren und Geschäftsschließungen gezwungen waren. Shinzo Abe, der sein Wählervertrauen seit Jahren auf dem Versprechen einer ökonomischen Boomzeit aufgebaut hatte, verzettelte sich. Er wollte auf den wirtschaftlichen Schwung, den die Olympischen Spiele dieses Jahr gebracht hätten, tunlichst nicht verzichten. So riskierte er eine Infektionswelle.

Den Entschluss zur Olympiaverschiebung um ein Jahr traf Abe erst, nachdem die nationalen olympischen Komitees von Australien und Kanada verkündet hatten, in diesem Jahr keine Athleten nach Japan zu schicken. Seitdem sieht der Premier aus wie einer, dem seine Wirtschaftspolitik wichtiger ist als die Gesundheit der Menschen. Die mit 18 000 Personen relativ geringe Infektionszahl ist der Bevölkerung ein schwacher Trost. In Umfragen unterstützt mittlerweile nur noch jeder dritte Befragte das Kabinett von Shinzo Abe.

Anders steht Yuriko Koike da. Als Abe inmitten des Pandemieausbruchs noch schwankte, forderte die Tokioter Gouverneurin schon von den Menschen, dass sie zuhause blieben. Bevor Abe Anfang Mai den nationalen Ausnahmezustand bis Monatsende verlängerte, hatte Koike dies bereits öffentlich ins Gespräch gebracht. Koike spricht auch regelmäßig auf Englisch zu den ausländischen Einwohnern Tokios. Sie wirkt modern und weltgewandt. Den Premierminister, der bisher vor allem reagiert hat, bringt all dies zusehends in Verlegenheit. „Frau Koike kommt rüber wie eine Anführerin, die bezüglich des Coronavirus ihren Job erledigt, während Abes Führungsstil kritisiert wird“, sagte Naoto Nonaka, Politikprofessor an der Gakushuin Universität in Tokio, kürzlich gegenüber der Nachrichtenagentur Kyodo.

Rivalität zwischen Koike und Abe ist bekannt

Eine persönliche Rivalität zwischen Koike und Abe ist im Land gut bekannt. Im Jahr 2007, als Abe erstmals für ein Jahr als Premier regierte, war Koike für kurze Zeit seine Verteidigungsministerin, schmiss aber bald hin. Später trat die als eitel geltende Koike wegen mehrerer Fehden aus der in Japan übermächtigen Liberaldemokratischen Partei aus. Auch ohne die Abe-Partei indes gelang es ihr 2016, Tokios Gouverneurswahl zu gewinnen. Als offensichtliches Konkurrenzprodukt zu Shinzo Abes „Abenomics“ genannter Wirtschaftspolitik – einer Kombination aus hohen Staatsausgaben, lockerer Geldpolitik und wachstumsfördernden Strukturreformen – bot Yuriko Koike für Tokio ihre „Yurinomics“ an: Unter anderem geht es um den Atomenergieausstieg, eine harte Hand gegen Korruption, einen verstärkten öffentlichen Nahverkehr und mehr Kitaplätze.

Schon kurz nachdem sie 2016 Tokios Bürgermeisterin geworden war, positionierte sie sich gegen Shinzo Abe, dessen Amtssitz nur ein paar Kilometer entfernt liegt. Als damals die Kosten für die Olympischen Spiele auszuufern drohten, berief Koike kurzerhand eine Budgetkommission ein, die Kürzungsvorschläge machen sollte. Auch im Frühjahr war es wieder Koike, die in dieser Sache die Initiative ergriff. Weil angesichts der Verschiebung um ein Jahr auch die Kosten um Milliarden Euro steigen dürften, sagte Koike öffentlich in Richtung Abe: „Wir hoffen, dass Regierung und Organisationskomitee zusammenarbeiten werden, um sich genau anzusehen, was alles rationalisiert und vereinfacht werden kann.“ Das war eine im Zusammenhang mit Olympia unerhörte Ansage. Koike rief nicht nur zum Geldsparen auf, was bei Olympischen Spielen eigentlich keinen Platz hat. Sie rechtfertigte diesen Schritt außerdem – nicht weniger unüblich – mit der Stimmung in der Bevölkerung: „Das wird nötig sein, damit wir die Empathie und das Verständnis der Öffentlichkeit gewinnen.“

Der klassische Frauenjob ist am Herd

Für Yuriko Koike ist die Tokio-Wahl am Wochenende deswegen vielleicht nur ein Etappenziel, tatsächlich zielt sie wohl auf Abes Amt ab. In einem Land, das in internationalen Vergleichen der Geschlechtergleichheit regelmäßig sehr schlecht abschneidet, wo kaum ein CEO weiblich und der klassische Frauenjob noch immer einer am Herd ist, würde Koike wohl für frischen Wind im ganzen Land sorgen.

Andererseits hätten diejenigen in Japan, die über den Mangel an echten Alternativen zu Shinzo Abe klagen, nicht ganz unrecht. Wie Abe gehört auch Koike dem nationalistischen Flügel der Konservativen an. Wie Abe befürwortet sie eine Revision der pazifistischen Verfassung, ist unternehmensnah eingestellt und wirbt für eine Internationalisierung der Wirtschaft. Und wie Abe hatte es auch Yuriko Koike im Frühjahr 2020 nicht eilig, die Olympischen Spiele zu verschieben.