Der Bundestrainer präsentiert sich nach dem Desaster in Russland erstmals der Öffentlichkeit und stellt an diesem Mittwoch sein Konzept vor – es ist ein wegweisender Tag für den deutschen Fußball. Fünf Punkte muss Löw ändern, analysiert unser Redakteur Marco Seliger.

Sport: Marco Seliger (sem)

Stuttgart - Der Pressekonferenzraum in Münchens Arena ist eher ein kleiner Kinosaal. Es gibt bequeme Sessel und eine große Leinwand vorne – und es gibt ein Podium, das die Hauptdarsteller ins rechte Licht rückt. Hier also wird Joachim Löw Platz nehmen an diesem Mittwoch, es wird das übliche Blitzlichtgewitter geben – und dann begrüßt der Pressesprecher des DFB die Runde, die sicher eine große sein wird an diesem wegweisenden Tag.

 

Und dann wird Joachim Löw um zwölf Uhr mittags, so ist der Plan, zum deutschen Fußball-Volke sprechen. Film ab also, oder besser: High Noon für Löw. High Noon für den deutschen Fußball. Es ist nicht mehr fünf vor zwölf. Es ist Punkt zwölf. Löw hat genau einen Schuss. Und der muss sitzen.

Der Bundestrainer wird die Ergebnisse seiner Analyse der diesjährigen WM vorstellen. Russland 2018 – das ist nicht weniger als das größte Debakel in der Geschichte des deutschen Fußballs. Löw darf trotzdem weitermachen. Jetzt also muss er bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach dem Vorrundenaus liefern, wie das in der Fußballersprache heißt. Von Löw, jenem Löw also, der nach der WM acht Wochen in der Freiburger Heimat und auf Sardinien im Urlaub abtauchte, werden Lösungen erwartet. Viel zu spät, wie es die meisten Kritiker sagen, aber jetzt ist es so weit.

Obendrein wird der Coach auch sein mit Spannung erwartetes Aufgebot für die ersten Spiele nach der WM benennen, also für den Auftakt in der Nations League gegen Weltmeister Frankreich am 6. September in München und für die Testpartie gegen Peru drei Tage später in Sinsheim.

Löw steht an diesem Mittwoch vor einer großen Herausforderung. Er muss einerseits demütig und selbstkritisch sein nach dem Desaster von Russland, er muss die Dinge beim Namen nennen. Auch beim Namen Joachim Löw. Gleichzeitig aber muss der Bundestrainer auch Aufbruchsstimmung erzeugen, das Gefühl vermitteln, dass er der Richtige ist. Und er muss konkret diese fünf Punkte anpacken.

1. Die Rückkehr auf den Planeten Erde

Völlig entrückt vom Rest der Welt, selbstverliebt, ohne Mumm, ohne die Bereitschaft, Fehler zu erkennen und sie sich einzugestehen – so trat Joachim Löw in der Vorbereitung und während der WM in Russland auf. Ich bin der Weltmeistertrainer, mir kann keiner was – das war Löw. Und das war seine Mannschaft, die es ihrem Trainer mit ihrer laschen Einstellung gleichtat. Löw muss sich neu erfinden, er muss ein neues Arbeitsethos an den Tag legen. Ansonsten wird er dieses Fußballjahr als Coach mutmaßlich nicht überleben. Löw ist der Trainer einer Mannschaft aus einer der größten Fußballnationen der Welt, die als Gruppenletzter bei einer WM ausschied. Er hat nun die erste und letzte Chance, es besser zu machen.

2. Das Schärfen der Sinne

Nach allem, was bisher aus Löws Kosmos durchgesickert ist, ist klar: Der Bundestrainer hat, was die Konzentration aufs Wesentliche angeht, aus dem Debakel von Russland gelernt. Er will künftig nach dem Motto „Weniger ist mehr“ handeln – was auch bitter nötig ist. Das Team ums Team muss gestrafft werden. Zuletzt bekam man den Eindruck, dass die Bodyguards des DFB teilweise noch ihre eigenen Bodyguards für sich dabei hatten, so aufgeblasen war der Riesenapparat namens Nationalelf. Obendrein gab es obskure Sonderwünsche, die den Spielern erfüllt wurden – das Einfliegen des Stammfriseurs etwa. All das bewirkte nur eines: fehlende Konzentration aufs Wesentliche. Hier muss Löw durchgreifen, ansonsten entfernt sich die derzeit entrückte Nationalelf noch weiter von der Basis als ohnehin schon.

Der umstrittene PR-Claim „Die Mannschaf“ als Symbol der exzessiven Vermarktung der DFB-Elf steht auf dem Prüfstand. Mehr öffentliche Trainingseinheiten und günstigere Eintrittspreise wiederum müssen in dieser Hinsicht die Maßnahmen des Verbandes sein, um das Kulturgut Nationalmannschaft wieder erlebbar und greifbar zu machen – und um endlich wieder so etwas wie Identifikation zu schaffen.

3. Der Aufbau einer neuen Elf

Mesut Özil muss sich nach der Erdogan-Affäre nicht öffentlich erklären, er darf Medientage als einziger Spieler schwänzen, weil Joachim Löw ihn schützt. Sami Khedira darf im dritten Gruppenspiel bei der WM gegen Südkorea plötzlich wieder von Beginn an ran, nachdem er vorher gegen Mexiko eine miserable Leistung zeigte und es dann im zweiten Spiel gegen Schweden ohne ihn wesentlich besser lief. Und so weiter.

Keine Frage: Der Bundestrainer protegierte seine Weltmeister von 2014 zuletzt über die Maßen – jetzt muss er, so hart es auch klingt, ausmisten. Die Zeit der Erbhöfe ist vorbei. Löw muss seine Elf zukunftsfähig machen. Wer aktuell nicht in Form ist, wird nicht nominiert – diese Selbstverständlichkeit setzte Löw zuletzt nicht um. Höchste Zeit, dass sich das ändert.

Obendrein muss Löw wieder zusammenführen, was in Russland nicht mehr zusammen gehörte. Die alten Platzhirsche und die jungen Spieler müssen wieder ein Team bilden und nicht verschiedene Gruppen. Ebenso muss Löw den vermeintlichen Riss im Team kitten – den Riss zwischen Akteuren mit Migrationshintergrund wie Jérôme Boateng oder Antonio Rüdiger, die durch extravagante Kleidung und ihre Liebe zur Rap-Musik auffallen, und den eher konservativ auftretenden Profis wie Mats Hummels oder Thomas Müller.

4. Die Neugestaltung des inneren Zirkels

Die Tatsache, dass Manager Oliver Bierhoff und Löw allein die sportliche Verantwortung für die Nationalelf tragen, muss auf den Prüfstand. Eine Rückkehr von Hansi Flick als Sportdirektor ist weiter im Gespräch. Dem Vernehmen nach ist es zudem offen, ob Co-Trainer Thomas Schneider und Chefscout Urs Siegenthaler – beides enge Vertraute von Löw – künftig noch für die Nationalelf arbeiten werden. Fakt ist: Es gab zuletzt keinen Verantwortlichen mehr, der Löw auf die Finger schaute, der ihn und seine Arbeit im besten Sinne kontrollierte und hinterfragte. Löw selbst muss sich in dieser Hinsicht öffnen – und neben sich wieder kritische und gleichberechtigte Partner akzeptieren.

5. Die fußballerische Ausbildung

Löw, so ist es zu hören, hat die Zeichen der Zeit erkannt, was die Fehler in der Ausbildung der Talente angeht. Er sagt: „Wir brauchen wieder echte Spezialisten auf manchen Positionen – und nicht Spieler, die alles so ein bisschen können.“ Deutschland, so Löw weiter, habe zum Beispiel „kaum Dribbler“. Der Coach sieht dabei auch die Bundesligaclubs in der Pflicht. Die müssten die individuellen Stärken fördern und im Nachwuchsbereich nicht nur Systeme lehren, sondern den Spielern auch ihre Freiheit lassen. Sicher, Löw hat viel falsch gemacht in den vergangenen Monaten – allerdings musste er auch damit leben, dass es zum Beispiel noch immer keinen deutschen Linksverteidiger mit internationalem Format gibt. Oder neben Timo Werner einen Angreifer auf ähnlichem Level.