Vorgetäuschte Straftaten Landesweit Tausende Verbrechen erfunden
Falsche Verdächtigungen und vorgetäuschte Straftaten beschäftigen die Polizei. Landesweit ist die Zahl der Delikte, die gar keine Delikte waren, auf 3000 gestiegen.
Falsche Verdächtigungen und vorgetäuschte Straftaten beschäftigen die Polizei. Landesweit ist die Zahl der Delikte, die gar keine Delikte waren, auf 3000 gestiegen.
Stuttgart - Wie soll er aus dieser Nummer herauskommen? Ein 47 Jahre alter Autofahrer ist in Obertürkheim in eine Polizeikontrolle geraten – und er hat deutlich mehr als die erlaubten 0,5 Promille Alkohol im Blut. Das Ergebnis des Alkomattests ist eindeutig. Der Mann muss mit auf die Wache des Polizeireviers Ostendstraße. Wie aus dieser Nummer herauskommen? Der 47-Jährige trifft eine fatale Entscheidung – und gibt sich für jemanden anderes aus.
Heute schon belogen worden? Der Stuttgarter Osten gehört für die Polizei zu einem der Stadtbezirke, in dem es es die meisten Fälle der falschen Verdächtigung oder der vorgetäuschten Straftaten in Stuttgart gibt. Dies ergibt eine Auswertung der polizeilichen Kriminalstatistik, in der sich auch erfundene Verbrechen und Falschmeldungen, sozusagen Fake News verstecken. Wie bei den 54 000 Straftaten insgesamt ist die Verteilung der Delikte ähnlich: Lügenbaron Münchhausen taucht am häufigsten in den Stadtbezirken Mitte und Bad Cannstatt auf.
Warum der Osten aber dreimal so viele erfundene Verbrechen aufweist wie der Stuttgarter Westen und fast fünfmal so viele wie der Stadtbezirk Vaihingen – dafür hat auch die Polizei keine Erklärung.
Dabei handelt es sich nicht um Kavaliersdelikte: Bei vorgetäuschten Straftaten, die Behörden der Strafrechtspflege unnötig belasten, drohen Geldstrafen oder Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren. Bei falscher Verdächtigung können es sogar bis zu fünf Jahre sein.
Der 47-jährige Alkoholsünder dürfte freilich noch ganz anderen Ärger bekommen. „Der Betroffene hat nämlich die Personalien seines Arbeitgebers angegeben“, sagt Polizeisprecher Tobias Tomaszewski, „und er fälschte auch noch dessen Unterschrift.“ Damit hatte er per Falschbeurkundung ausgerechnet seinem Chef die Trunkenheitsfahrt in die Schuhe schieben wollen. Freilich: Die Polizisten ließen sich nicht täuschen. Welche arbeitsrechtlichen Konsequenzen diese falsche Verdächtigung hat, ist nicht überliefert.
Zwar sind die Zahlen, gemessen an mehr als 600 Polizeieinsätzen pro Tag, gering. In Stuttgart wurden 2018 insgesamt 84 Fälle von falschen Verdächtigungen und vorgetäuschten Straftaten registriert. 2017 waren es 83. Ein Trend für das aktuelle Jahr liegt für Stuttgart noch nicht vor.
In Baden-Württemberg hat die Zahl der Delikte, die gar keine Delikte waren, in der Kriminalstatistik für 2018 erkennbar zugenommen: Von 2895 auf 3000 Fälle. Immerhin scheint es in diesem Jahr nicht schlimmer zu werden: „In den ersten elf Monaten“, so der Sprecher des Landesinnenministeriums, Renato Gigliotti, „zeichnet sich ein Rückgang ab.“
Doch schon eine einzige vorgetäuschte Straftat kann immense Folgen für das Sicherheitsgefühl haben. Etwa die angebliche Vergewaltigung einer 20 Jahre alten Studentin vor mehr als einem Jahr im Stadtgarten in der Stuttgarter Innenstadt. Der Fall hatte eine öffentliche Diskussion über die Sicherheit im Park an der Universität ausgelöst. Das Amtsgericht verurteilte die junge Frau nach Jugendstrafrecht zu einem Bündel erzieherischer Maßnahmen. Zu zwei Jahren auf Bewährung wurde eine 28 Jahre alte Frau verurteilt, die gleich drei Vergewaltigungen angezeigt und einen Unschuldigen damit sogar vorübergehend in U-Haft gebracht hatte.
„Sexualdelikte sind für Ermittler unheimlich schwer zu objektivieren, weil meist nur zwei Personen beteiligt sind“, sagt Jochen Schröder, Dekan der Fakultät Kriminalwissenschaften an der Fachhochschule der Polizei Baden-Württemberg. Die Motive des Täuschens sind vielfältig. Da wurde der Geldbeutel nicht einfach fahrlässig verloren, sondern geraubt. „Bei Raubdelikten, die meist in der Anonymität stattfinden, ist es leichter, einen Täter zu erfinden“, sagt Schröder.
Mal will man unter Dealern einem Konkurrenten schaden, mal geht es um Versicherungsbetrug. „Häufig gibt es auch eine politische Motivation, Kriminalitätsfurcht zu schüren“, so Schröder. Etwa über Facebook, WhatsApp und Co: „Soziale Medien erleichtern Tätern die Verbreitung falscher Behauptungen“, so Schröder.
Dazu dürfte auch ein Fall zu Jahresbeginn gehören, als ein 18-Jähriger auf der B 10 im Osten nachts von einem Auto angefahren und schwer verletzt wurde. Angeblich sei er zuvor von bewaffneten ausländischen Jugendlichen verfolgt worden. Der Polizei wurde aus dem Umfeld des Betroffenen vorgeworfen, diese Jagd zu vertuschen. Nach Erkenntnissen der Ermittler hat es aber weder die Jugendlichen noch die Hetzjagd gegeben.