Ausschalten war beim Tatort aus Leipzig in der Vergangenheit öfters eine Option. Nicht so in seiner Abschiedsfolge. „Niedere Instinkte“ ist ein packender und beklemmender Psychothriller. Ausschalten ist dieses Mal keine gute Idee.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Fast immer, wenn am Sonntag ein „Tatort“ aus Leipzig mit Simone Thomalla und Martin Wuttke anstand, gaben selbst eingefleischte Fans der Krimireihe der Versuchung nach, die Folge ausnahmsweise ausfallen zu lassen. Zu einfallslos spielten die Fälle von Eva Saalfeld und Andreas Keppler die immergleichen Krimi-Standards durch. 2008 war das Ermittlerduo angetreten - als vom MDR die Nachricht kam, dass in diesem Frühjahr nach 21 Folgen Schluss sein soll, wischte sich kaum einer eine Träne aus den Augenwinkeln. Und nun das: ausgerechnet in ihrer Abschiedsfolge lassen die Kommissare, die privat mal ein Paar gewesen sind, Routine und Erwartbarkeit hinter sich: Der Krimi-Virtuose Sascha Arango hat ihnen mit „Niedere Instinkte“ einen gespenstischen Psychothriller geschrieben.

 

Wo sonst langweilige Polizeiarbeits-Monotonie herrschte, waltet von Anfang an das Chaos, inhaltlich wie formal: Keppler watet durch das kniehoch in seiner Küche stehende Wasser und fragt den Zuschauer durch die geöffnete Kühlschranktür: „Was ist der Sinn des Lebens? Soll das Ganze ein Scherz sein oder eine Tragödie?“ Wie im absurden Theater. Was folgt, hat mit der üblichen Verbrechersuche wenig zu tun: Im Dezernat geht’s drunter und drüber, Motive bleiben völlig im Dunkeln, und die Kommissare liefern sich eher Beziehungs-Gefechte anstatt Verdächtige zu verhören.

Die Regisseurin macht aus dem Krimi einen Psychothriller

Auch die Eltern des achtjährigen Mädchens, das verschwunden ist, reagieren nicht erwartungsgemäß: Anstatt verzweifelt zu sein, verlassen sie sich auf Gottes Wille und finden zunächst Halt im monotonen Gebets-Gebrumm ihrer Sekte. Mindestens ebenso bizarr erscheint das Paar, das Magdalena entführt und in einem versteckten, zur putzigen Kinder-Höhle ausgebauten Kellerraum gefangen hält. Susanne Wolff und Jens Albinus spielen die psychologisch krankhaft verbandelten Entführer mit großer Intensität. Dass der Krimi zum beklemmenden Psycho-Trip wird, liegt aber ebenso an Claudia Gardes Regie, die mit David-Lynch-artigen Kamerafahrten den Horror hinter der bürgerlichen Existenz offenlegt. Und Saalfeld und Keppler führen zuguterletzt noch ihre eigene Geschichte ad absurdum. Ob Scherz oder Tragödie – das ist schwer auszumachen. Wer Eindeutigkeit und Konventionen will, sollte also die Finger von diesem außergewöhnlichen Leipziger Finale lassen. Für alle anderen gilt: angucken!

Schönste Krimifloskel: „Dein Schuh stinkt immer noch!“ raunzt Saalfeld ihren Keppler an, nachdem der bei der Spurensuche in irgendeine Fäkalie getreten ist. Wussten wir’s doch: Sie liebt ihn einfach.

Heimliche Stilikone: Die gespenstischen weißen Masken, die das Entführerpaar trägt, damit es von Magdalena nicht erkannt wird. Dass die Prickels glauben, das Kind könnte trotzdem liebevolle Gefühle für sie entwickeln, zeigt nur, wie gestört sie sind.

Gefühlter Moment, in dem der Fall gelöst ist: Das ist die falsche Frage für diesen Krimi, der sämtliche Krimiregeln über den Haufen wirft.