Europas Außengrenze soll auch ohne die Zustimmung des jeweiligen Mitgliedstaates gesichert werden. Das sieht ein Plan der EU-Kommission vor, den sie allerdings auch selber für kühn hält.

Brüssel - Jetzt geht es in der Flüchtlingskrise ans Eingemachte. In Deutschland muss Kanzlerin Angela Merkel am Montag auf dem CDU-Parteitag ihren umstrittenen Kurs gegen Kritiker in den eigenen Reihen verteidigen, auf europäischer Ebene folgt am Dienstag ein hochbrisanter Gesetzesvorschlag der Brüsseler Kommission, der – umgesetzt – alle bisherigen Maßnahmen in den Schatten stellen würde: Ein EU-Grenzschutzkorps soll die Sicherung der EU-Außengrenze etwa in Griechenland übernehmen – selbst wenn die Regierung in Athen dies nicht wollte.

 

Doch der Reihe nach: Schon der EU-Gipfel Mitte Oktober hatte anerkannt, dass wegen der großen Zahl an Migranten Mitgliedstaaten überfordert und die „Entwicklung eines europäischen Grenz- und Küstenschutzsystems“ nötig sei. Entsprechend wurde die EU-Kommission ermuntert, möglichst bald ein Gesetzespaket dazu auf den Weg zu bringen. Einig waren sich die Staats- und Regierungschefs auch darin, dass EU-Grenzschutzeinsätze „unter uneingeschränkter Wahrung der nationalen Zuständigkeit“ und „in Zusammenarbeit mit dem betroffenen Mitgliedstaat“ erfolgen müssten.

Die EU greift eine Idee aus Deutschland auf

Die Ausgangslage hat sich inzwischen verändert. Das hat vor allem damit zu tun, dass Griechenland die Zusage, bis Ende November die Registrierung ankommender Flüchtlinge in neu aufzubauenden Aufnahmezentren sicherzustellen, bisher nicht hat erfüllen können oder wollen. Die sogenannten „Hotspots“, aus denen Flüchtlinge über Europa verteilt oder in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden sollen, sind zentraler Bestandteil des von Kanzlerin Merkel propagierten Lösungskonzepts. „Der Aufbau dieser Einrichtungen dauert zu lang“, heißt es daher in einem der Stuttgarter Zeitung vorliegenden Schreiben, das Bundesinnenminister Thomas de Maizière und sein Pariser Amtskollege Bernard Cazeneuve kürzlich den EU-Spitzen zukommen ließen. Der Brief enthält auch die Forderung nach mehr Personal und Gerät für die EU-Grenzschutzagentur Frontex. Vor allem aber markiert er eine Abkehr davon, dass nationale Regierungen stets das letzte Wort haben sollen. „In Ausnahmesituationen“, schreiben de Maizière und Cazeneuve, „sollte Frontex auch die Initiative für den Einsatz von Soforteinsatzteams in eigener Verantwortung ergreifen können.“

Die EU-Kommission, in der Flüchtlingskrise eine von Merkels wenigen europäischen Verbündeten, greift die Idee nun auf. In ihrem Vorschlag, der am Dienstag präsentiert werden soll und der der StZ als Entwurf vorliegt, schlägt sie ein gemeinsames Grenzschutzkorps vor, um in Krisensituationen Europas Außengrenzen zu sichern: „Wir können den Schengenraum ohne Grenzkontrollen im Innern nur erhalten, wenn seine Außengrenzen effektiv geschützt werden.“

Mindestens 1500 Beamte sollen die EU-Staaten demnach als Reserve vorhalten, die innerhalb weniger Tage eingesetzt werden kann. Auf freiwilliger Basis nämlich funktioniert es nicht – von den 743 Beamten, die Frontex für die Operation in Griechenland angefordert hat, stellten die Regierungen nur 447 zur Verfügung. Künftig soll es auch einen stets verfügbaren Geräte- und Materialpark geben.

Selbst Juncker hält das für einen „kühnen“ Plan

Dass der Plan einer politischen Bombe gleichkommt, liegt freilich am Ende der alleinigen nationalen Zuständigkeit. Die Kommission stellt fest, dass Frontex bisher kaum habe helfen können, da „einige Mitgliedstaaten die vorhandenen Grenzinterventions-Mechanismen nicht aktivieren“. Unter neuem Namen soll alles anders werden: Im „Europäischen Grenz- und Küstenschutz“ würden neben Frontex auch Bundesgrenzschutz und deutsche Küstenwache aufgehen, die im Alltagsbetrieb für die Grenzkontrolle zuständig blieben.

Die Behörde könnte von sich aus den Einsatz an bestimmten Grenz- oder Meeresabschnitten vorschlagen. Käme ein Mitgliedstaat dem nicht nach, würde die EU-Kommission den Einsatz anordnen – er käme nur dann nicht zustande, wenn sich zwei Drittel der Staaten aktiv dagegen aussprächen. „Dies wird der Agentur erlauben“, heißt es im Gesetzentwurf, „in Krisensituationen sofort zu intervenieren“.

Selbst der Sprecher von Kommissionschef Jean-Claude Juncker bezeichnete die Initiative am Freitag als „kühn“, doch erwarte man sich Unterstützung beim EU-Gipfel nächste Woche. Die notwendige Einstimmigkeit freilich dürfte schwer bis unmöglich zu erzielen sein. Athens Premier Alexis Tsipras hieß zwar „eine europäische Küstenwacht willkommen“, schränkte aber sofort ein, er werde die Letztverantwortung für die Landesgrenze nicht abgeben. Auch im später folgenden Gesetzgebungsverfahren, wo mit Mehrheit entschieden wird, dürfte der Vorschlag kein Selbstläufer sein. „Nicht nur aus Griechenland wird Widerstand kommen in dieser Frage, die tief in die nationale Souveränität eingreift und auch militärische Aspekte berührt“, sagte ein belgischer Diplomat der StZ: „Selbst mein Land, das für mehr europäische Integration stets offen ist, kann dem nicht so leicht zustimmen.“ Die Sorge ist groß, dass – analog zum EU-Defizitverfahren – vor allem kleine Staaten solche Grenzschutzeinsätze verordnet bekämen, während die größeren sie politisch zu verhindern wüssten.

Echte Zustimmung signalisiert bisher allein die Bundesregierung, die die Idee mit angestoßen hat. „Nur mit mehr Europa können wir Schengen noch erhalten“, sagte ein EU-Diplomat dieser Zeitung: „Und wenn man bedenkt, dass wir als Europa Griechenland zu härtesten Sparmaßnahmen und Rentenkürzungen gezwungen haben, ist diese Art von Souveränitätsverzicht doch ein ziemlich kleines Opfer.“