Exklusiv Aus menschenrechtlicher Perspektive ist der dringlichste Schritt, geschlechtszuweisende OPs zu verhindern, die nicht der Lebensrettung dienen – und das sind fast alle, sagt Beate Rudolf vom Institut für Menschenrechte im StZ-Interview.

Beate Rudolf ist seit 2010 Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte in Berlin. Zuvor lehrte sie als Juniorprofessorin für Öffentliches Recht und Gleichstellungsrecht an der Freien Universität Berlin. Während des Referendariats arbeitete sie im Direktorat für Menschenrechte des Europarats. Bis Ende 2011 war sie Vizepräsidentin der European Women Lawyers Association.

 
Frau Rudolf, wie bedeutend ist die Änderung im Personenstandsrecht für Intersexuelle?
Die Regelung ist nur ein erster Schritt. Sie nimmt Druck von den Eltern, ihrem intersexuellen Kind kurz nach der Geburt ein Geschlecht zuzuweisen, sowohl durch Eintragung ins Geburtenregister als auch durch Operation. Damit ist die Chance größer, dass sich Eltern umfassend über die schwerwiegenden und zum Teil noch gar nicht erforschten Langzeitfolgen von geschlechtszuweisenden Operationen informieren können. Eltern gewinnen auch Zeit, um durch Kontakt zu Organisationen intersexueller Menschen ihre eigene Verunsicherung zu überwinden. Sie können von den Erfahrungen anderer lernen, rechtliche und tatsächliche Hindernisse zu überwinden und die befürchtete Diskriminierung des eigenen Kindes zu verhindern.
Beate Rudolf Foto: privat
Sie haben die Neuerung aber als „Minimallösung“ bezeichnet. Was muss folgen?
Aus menschenrechtlicher Perspektive ist der dringlichste Schritt, geschlechtszuweisende Operationen zu verhindern, die nicht der Lebensrettung dienen – und das sind fast alle. Das folgt aus dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit, aus dem Selbstbestimmungsrecht des Kindes und dem Grundsatz des Kindeswohls. Hierfür bedarf es klarer rechtlicher Regelungen und der Aufklärung von medizinischem Personal, Eltern und der allgemeinen Öffentlichkeit. Außerdem braucht es auch personenstandsrechtliche Regelungen für die nicht seltenen Fälle, dass die Intersexualität eines Kindes erst während Kindheit oder Jugend erkannt wird. Ebenso muss es Regelungen geben, dass intersexuelle Menschen selbst darüber entscheiden können, ob sie dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeordnet sein wollen. Es muss auch möglich sein, sich einer solchen Zuordnung zu verweigern. Dabei ist es menschenrechtlich unerheblich, ob dies durch bloßes Offenlassen des Geschlechtseintrags erfolgt oder durch die Anerkennung eines dritten Geschlechts – wie dies übrigens bereits das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 vorsah.
Welche Rolle für die Verbesserung der Situation spielt die medizinische Fachwelt?
Hebammen, Ärztinnen und Ärzte sind in der Regel die ersten Ansprechpartner für Eltern. Deshalb ist es wichtig, dass sie sich der menschenrechtlichen Grenzen ihrer Tätigkeit, vor allem der Begrenzung durch die Kinderrechte, bewusst sind. Es bedarf der Einsicht, dass die Furcht vor der Diskriminierung einen unumkehrbaren medizinischen Eingriff nicht rechtfertigt. Die medizinische Wissenschaft ist gehalten, die Langzeitfolgen von operativen und medikamentösen Eingriffen bei intersexuellen Menschen besser zu erforschen.
Ist das Bewusstsein für die Problematik im Allgemeinen zu wenig ausgeprägt?
Das Bewusstsein wächst. Der Bundestag hat im vergangenen Jahr eine eindrucksvolle Debatte über das Thema Intersexualität geführt – allerdings spätabends. Nicht weit genug verbreitet ist jedoch die Einsicht, wie dringend es ist, intersexuelle Kinder vor unumkehrbaren Operationen zu schützen. Was wir brauchen, ist die Anerkennung, dass es intersexuelle Menschen gibt und dass sie so, wie sie sind, in unserer Gesellschaft gleichberechtigt leben können.
Wie bewerten Sie denn die Rolle des Ethikrates in dieser Frage?
Es war gut, dass sich der Ethikrat durch öffentliche Anhörung Betroffener und verschiedenster Wissenschaftsrichtungen der Probleme rings um Intersexualität angenommen hat. Nun ist der Gesetzgeber am Zug. Dem ersten Schritt, der Änderung des Personenstandsrechts, müssen zügig weitere folgen.