Der Vorsitzende des Polizeihistorischen Vereins hat über den ersten deutschen Kidnappingfall mit Erpressung gesprochen.

Stadtleben und Stadtkultur : Alexandra Kratz (atz)

Degerloch/Sonnenberg - Die älteren Menschen in Sonnenberg und Degerloch können sich noch gut erinnern. An die Angst ihrer Eltern, daran, dass sie nicht mehr auf der Straße spielen durften und an die vielen Berichte in den Medien. Manch einer kannte gar die Familie. „Für die Menschen hier waren es wahrscheinlich die vier heftigsten Wochen der Nachkriegszeit“, sagte Michael Kühner am Mittwochabend im Gemeindezentrum Sonnenberg. Der ehemalige leitende Kriminaldirektor und Vorsitzende des Polizeihistorischen Vereins Stuttgart war der Einladung des Sonnenberg-Vereins gefolgt und berichtete über den ersten Kidnappingfall mit Erpressung in der bundesdeutschen Kriminalgeschichte.

 

Der 15. April 1958 war ein Dienstag. Joachim Göhner spielte vor dem Elternhaus an der Löwenstraße in Degerloch. Die Hausdame hatte es erlaubt, zum Mittagessen wollte der Siebenjährige wieder zurück sein. Doch das Kind kam nicht heim. Am Abend ging der Vater, ein 56 Jahre alter Textilvertreter, zur Polizei und gab eine Vermisstenanzeige auf. Die Beamten begannen sofort mit der Suche, befragten Nachbarn und fahndeten nach der geschiedenen Ehefrau. Erst am Donnerstag um Mitternacht meldete sich der Entführer. Er forderte 15 000 Mark Lösegeld und für jeden Tag Verzögerung weitere 5000 Mark. Der Vater hatte das Geld nicht, die Stadt Stuttgart half aus. Zweimal ging der Textilvertreter zu einer geplanten Geldübergabe. Doch der Täter holte die 15 000 Euro nie ab – aus Angst, gefasst zu werden.

Zwei geplante Geldübergaben

Der Junge war zu diesem Zeitpunkt längst tot. Der Entführer hatte ihn in den Haldenwald gebracht. Joachim Göhner glaubte, dass der Passant ihm dort Rehe zeigen wolle. Doch in einer Fichtenschonung im Kohlhau erwürgte der Gärtner Emil Tillmann den Jungen. Für den Täter sei von Anfang an klar gewesen, dass er sein Opfer sofort töten würde. Er habe nie vorgehabt, den Knaben zu verstecken und nach der Übergabe des Lösegelds wieder freizulassen, sagte Kühner. Am 22. April 1958 fand ein Arbeiter auf dem Heimweg die gefesselte Kinderleiche in einer Fichtenschonung im Haldenwald.

Die Polizei habe fieberhaft nach dem Täter gesucht, betonte Kühner in seinem Vortrag. Hunderte Beamte waren im Einsatz. Am 30. April begann die öffentliche Fahndung. Rundfunksender strahlten bundesweit den Mitschnitt eines Telefongesprächs mit dem Täter aus, die Polizei bat um Zeugenhinweise. Viele Menschen meldeten sich. Darunter waren auch sechs Zeugen, die einen Gärtner aus Stuttgart ins Gespräch brachten: Emil Tillmann.

Emil Tillmann gestand die Tat

Bei der Durchsuchung seines Hauses fand die Polizei unter anderem Schnüre, die zu denen passten, mit denen Joachim Göhner erdrosselt worden war. Tillman kam in Untersuchungshaft. Er legte ein umfassendes Geständnis ab und erhängte sich am 23. Mai 1958 mit einem Gürtel in seiner Zelle am Charlottenplatz. Der Fall war bis dato einzigartig in Deutschland. „In Stuttgart ist er es bis heute zum Glück geblieben“, sagte Kühner.

Die Polizei habe damals völlig unvorbereitet vor diesem neuen Phänomen der Kriminalität gestanden. „Das kannte man nur aus den USA und von der italienischen Mafia“, sagte Kühner. Tillmann hatte in einer Illustrierten von einer Kindesentführung auf Sizilien gelesen. Weil er heiraten wollte, seine Geliebte aber erst eine finanzielle Sicherheit forderte, wurde Tillmann zum Täter. Die Polizei ist sich aber sicher, dass die Frau nichts von dem Mord wusste. Sie ging davon aus, dass Tillmann erben würde.

Die Polizei habe bei den Ermittlungen einige Fehler gemacht, gab Kühner zu. Doch müsse man auch bedenken, dass die Beamten Neuland betraten, dass Ausrüstung, Organisation und technische Möglichkeiten nicht mit heutigen Standards vergleichbar gewesen seien. Im Nachhinein betrachtet, sei der Fall für die Weiterentwicklung der Kriminalpolizei eine Initialzündung gewesen.

Zeitliche Einordnung des Falls

Ob die Polizisten, die in diesem grässlichen Fall ermittelten, psychologisch betreut worden seien, fragte einer der Zuhörer. Kühner antwortete, dass man den Fall auch zeitlich einordnen müsse. „Das war in der Nachkriegszeit, als viele Männer aus Krieg und Gefangenschaft zurückkehrten. Da stellte sich die Frage nach einer psychologischen Betreuung nicht.“ Zudem müsse ein Polizist damit rechnen, auch mit solchen Taten konfrontiert zu werden.

Ob die Zahl der Kidnappingfälle mit den Jahren zugenommen habe, fragte ein anderer Mann aus dem Publikum. Es seien nach wie vor Einzelfälle, so Kühner. Aber „erpresserischer Menschenraub“, wie es im Fachjargon heiße, sei ein Phänomen, mit dem sich die Polizei leider immer mal wieder beschäftigen müsse.

„Doch warum wird jemand zum Mörder“, fragte eine Frau. Die Geschichte der Kriminalität beginne damit, dass Kain seinen Bruder Abel erschlagen habe, antwortete Kühner. Verbrechen seien auch immer ein Spiegel der Gesellschaft. „Zum Glück können wir in Deutschland noch einigermaßen sicher leben. Das gilt es zu verteidigen“, so Kühners Schlusswort.