Vorwürfe gegen Kinderpsychiater Unerlaubte Arbeitsteilung in der Gutachterbranche?

Wenn Eltern sich vor Gericht ums Kind streiten, ziehen Richter häufig einen Sachverständigen hinzu. Was, wenn sie den Gutachter nie zu Gesicht bekommen? Foto: tock Adobe

Streiten sich Eltern ums Kind, schaltet das Familiengericht oft einen Gutachter ein. In mehreren Fällen in der Region Stuttgart erschien beim Treffen mit der Familie allerdings nur dessen Mitarbeiter. Diese Form der Delegation ist laut Rechtsexperten unzulässig.

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)

Am 12. April wird am Stuttgarter Landgericht ein Fall verhandelt, der ein Schlaglicht auf einen Geschäftszweig wirft, welcher über das Wohl und Wehe von Familien entscheiden kann. Eheleute aus dem Rems-Murr-Kreis klagen auf Schadenersatz gegen einen Kinderpsychiater und ehemaligen Abteilungsleiter eines Krankenhauses, der im großen Stil familienpsychologische Gutachten für Gerichte erstellt. Eine heikle Tätigkeit, denn auf ihrer Grundlage entscheiden Richter beispielsweise, bei welchem der beiden zerstrittenen Elternteile das Kind künftig wohnen darf oder ob es ganz aus der Familie genommen werden muss.

 

Der nun verhandelte Fall hat einen besonders tragischen Hintergrund. Die Eltern machen den Gutachter mitverantwortlich dafür, dass ihr Sohn sich das Leben genommen hat. Denn die Einschätzung des Arztes habe zur Folge gehabt, dass der Sohn aus der Familie genommen wurde, wodurch eine psychische Erkrankung nicht erkannt und behandelt worden sei, so fasst das Landgericht Stuttgart die Klage zusammen. Vor eineinhalb Jahren wurde der Sohn von einem Zug erfasst. Der Gutachter wollte sich zu den Vorwürfen nicht äußern.

Der Beweis, dass der Gutachter eine Mitschuld am Tod des Jungen trägt, dürfte nach Ansicht von Rechtsexperten kaum zu erbringen sein. Anders verhält es sich bei einem Vorwurf, der dem Arzt auch in drei weiteren Prozessen in Baden-Württemberg und Hessen gemacht wird. In allen Fällen wird beklagt, dass er den wichtigsten Teil der Gutachterarbeit, nämlich den Termin mit der Familie, an andere Gutachter delegiert und auch den Datenschutz missachtet habe. Die Kläger verweisen dabei auf die Zivilprozessordnung Paragraf 407a, wonach der vom Richter benannte Gutachter „nicht befugt ist, den Auftrag auf einen anderen zu übertragen“.

Allenfalls unterstützende Dienste

Das Amtsgericht Waiblingen, das im Fall des Ehepaars aus dem Rems-Murr-Kreis das Gutachten in Auftrag gegeben hat, beruft sich in einer Stellungnahme auf denselben Paragrafen, in dem es weiter heißt: „Soweit er sich der Mitarbeit einer anderen Person bedient, hat er diese namhaft zu machen und den Umfang ihrer Tätigkeit anzugeben.“ Mit der Mitarbeit sind jedoch laut Gesetzeskommentaren „allenfalls unterstützende Dienste gemeint“ wie Vorarbeiten oder Auskünfte anderer Sachverständiger. Nicht überlassen dürfe der Sachverständige einem anderen die sogenannte Exploration, nämlich „die persönliche Begegnung mit der zu explorierenden Person“, heißt es in einem Beschluss des Oberlandesgerichts Köln im Jahr 2011.

Der Beklagte selbst macht kein Geheimnis daraus, dass sein Geschäftsmodell auf einer langen und von Richtern geduldeten Zusammenarbeit mit anderen Gutachtern beruht. Seine Anwältin erklärte vor zwei Monaten in einem anderen Prozess gegenüber dem Tübinger Landgericht, ihr Mandant leite seit mehr als zehn Jahren eine große Gutachterstelle, „in welcher derzeit über 200 Gutachten pro Jahr erstellt werden“. Das Geschäftsmodell verteidigt sie damit, dass die Gerichte seit jeher die Delegation an andere akzeptierten: Es entspreche „der ständigen Übung der Gerichte in Baden-Württemberg, dass Gutachtenaufträge an die leitenden Ärzte der entsprechenden Abteilungen erteilt werden und diese dann entscheiden, von welchem Arzt der Abteilung das Gutachten erstellt wird“.

Die Vorgehensweise ist allerdings nur dann zulässig, wenn dieser Mitarbeiter vom Gericht – und damit für alle Parteien ersichtlich – offiziell beauftragt wurde. „Im sogenannten Beweisbeschluss des Gerichts muss der Name der Person aufgeführt sein, die sich persönlich vor Ort ein Bild von den zu begutachtenden Personen gemacht hat“, erklärt die Rechtsanwältin Stefanie Kracke von der Hamburger Kanzlei Kind & Recht. „Diese Person stellt am Ende auch die Rechnung.“ In den laufenden Prozessen steht an dieser Stelle der Name des Kinderpsychiaters. Dem baden-württembergischen Richterbund ist offenbar bekannt, dass Richter in der Vergangenheit delegierte Gutachten geduldet haben. Die Praxis, „Hilfsarbeitern die Untersuchung zu überlassen, dürften die Rechtsmittelgerichte seit geraumer Zeit beanstanden“, teilte der Verband mit.

Dass sich viele Gutachter unter einem Dach versammeln, ist kein Einzelfall. In München und Stuttgart arbeiten Büros mit Dutzenden von freiberuflich arbeitenden Sachverständigen zusammen, um effizienter zu wirtschaften. Nach Recherchen unserer Zeitung hat auch ein Stuttgarter Büro Gutachten von Personen erstellen lassen, die im Beweisbeschluss nicht benannt waren. Die Schriftstücke wurden von zwei Gutachtern unterschrieben: zum einen vom freiberuflichen Mitarbeiter, der als „Gesamtverantwortlicher“ bezeichnet wird, zum anderen von einem der Büroleiter, der „aufgrund eigener Urteilsbildung“ unterzeichnet haben soll.

Zwei Unterschriften

In seiner Stellungnahme schreibt das Stuttgarter Büro, dass es „zu keinem Zeitpunkt Explorationen delegiert“ habe, sondern lediglich Aufträge vermittle. In den vorliegenden Fällen sei „davon auszugehen, dass der vorliegende Beweisbeschluss vom Gericht später abgeändert wurde“. Die freiberuflich arbeitenden Gutachter rechneten das Honorar im eigenen Namen ab – das Büro unterstütze „lediglich bei der Rechnungsstellung“. Dass immer einer der Büroleiter mitunterzeichne, sei zurückzuführen auf eine „Supervisionsleistung“. Rechtsexperten halten diese Praxis für unzulässig. „Gutachten dürfen nur Personen unterzeichnen, die das Gericht benannt hat“, sagt der Frankfurter Familienrechtler Michael Langhans. „Sonst läge eine grobe Verletzung des Datenschutzes vor.“

Zu seinem Geschäftsmodell erklärt das Büro weiter, man rekrutiere und vermittle Aufträge an freiberufliche Gutachter, die wiederum am Honorar bemessene „Nutzungsentgelte“ entrichteten. Die Medizinprofessorin Ursula Gresser, die Studien zur Neutralität von Gutachtern veröffentlicht hat, kritisiert diese Vorgehensweise. Zwar werde Richtern die Suche nach Gutachtern erleichtert, sagt sie. „Aber die Wahl des Sachverständigen einem Büro zu überlassen, birgt die Gefahr, dass nach wirtschaftlichen Aspekten entschieden wird und nicht danach, wer qualitativ am besten geeignet ist.“

Kosten durch Gutachten

Zahlen
 Wie viele Gutachten Familiengerichte pro Jahr in Auftrag geben, wird laut Bundesjustizministerium statistisch nicht erfasst. Doch die Zahl dürfte stark gestiegen sein: Im Jahr 2002 befassten sich Familiengerichte laut Statistischem Bundesamt mit knapp 119 000 Verfahren zum Sorge-und Umgangsrecht. 2022 waren es mehr als 205 000 Verfahren. Studien zufolge holen Familienrichter in ungefähr jedem vierten Verfahren ein Gutachten ein.

Honorar
 Die Bezahlung der Sachverständigen ist gesetzlich festgelegt. Demnach erhalten sie pro Stunde 120 Euro, wobei Fahrt- und Wartezeiten mitangerechnet werden dürfen. Die Gutachterhonorare liegen im vier- bis fünfstelligen Bereich, zu entrichten von den Streitenden, wenn diese keinen Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben. Oft zahlt allerdings der Steuerzahler.

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