Die Bestechungsvorwürfe gegen den Deutschen Fußball-Bund und die Abgasaffäre bei VW rücken Deutschland ins Zwielicht. Schon früher hat es prominente Fälle von Grenzüberschreitungen gegeben – für die Soziologie ist das keine Überraschung.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Sowohl Franz Beckenbauer als auch der frühere VW-Chef Martin Winterkorn haben Weltmeisterliches für Deutschland geleistet: Der eine hat vor allem die Holländer (1974) und Argentinier (1990) besiegt – der andere die Japaner abgehängt (erstes Halbjahr 2015). Umso tragischer ist es, wenn sich die wenigen Lichtgestalten hierzulande als Schattenmänner erweisen, die ihr hohes Ansehen mit Hilfe krimineller Geschäfte erreicht haben.

 

Es braucht viele Jahre, um alle Ehrfurcht und Vertrauen aufzubauen, aber nur Tage oder Wochen, um den Heiligenschein am Boden zerschellen zu lassen. Dann sind Konsequenzen unvermeidlich: Der „Kaiser“ Beckenbauer kann aber nicht abdanken – quasi an seiner Stelle hat dies schon DFB-Präsident Wolfgang Niersbach getan. Womöglich hat der Bayer auch erhebliche Mühe, sein Fehlverhalten einzusehen. Ähnlich wie der brachial zum Rücktritt gedrängte Winterkorn will er von nichts gewusst und nichts falsch gemacht haben.

Der VW-Abgasskandal mündet praktisch direkt in die Bestechungsaffäre rund um die WM 2006. Welche Ironie, dass ausgerechnet der Deutschen liebste Disziplinen davon betroffen sind: Autos und Fußball. Das Dumme ist nur, dass die Vorgänge wegen der kurzen zeitlichen Folge eine verheerende Wirkung im Ausland haben können. Aus „made in Germany“ wird „Betrug in Germany“. Ausgerechnet Deutschland mit seinen hohen ethischen Standards, das sich seit dem Weltkrieg zum allseits anerkannten Partner entwickelt hat und dem viele Länder eine politische Führerschaft zubilligen, ist im neuen Lichte als Moralinstanz ein Totalausfall. Die Vorbildwirkung auf sogenannte Bananenrepubliken dürfte derzeit eine zweifelhafte sein.

„Organisationen können nicht anders“

Aber darf man wirklich überrascht sein? Deutsche Vorzeigeunternehmen sind ja schon öfter international auffällig geworden. Fünf Jahre ist es her, dass Daimler seine weltweite Schmiergeld-Affäre in den USA mit einer Strafzahlung von etwa 135 Millionen Euro hinter sich brachte. Neun Jahre sind vergangen, seitdem der Korruptionsskandal bei Siemens aufgedeckt wurde, der den Konzern in den Fundamenten erschütterte. Nur zwei Beispiele von vielen. Nichts daraus gelernt? Haben die Deutschen trotz ihres Weltverbesserer-Anspruchs einen besonderen Hang zur Wirtschaftskriminalität? Klar ist: wer über viel Geld – den Treibstoff der Globalisierung – verfügt, setzt es mitunter auch zu unlauteren Zwecken ein. Da sind die Deutschen nicht besser als andere.

Alles ganz normal, wenn man der Organisationssoziologie folgt: Stefan Kühl von der Universität Bielefeld bewertet die neuen Vorgänge ziemlich gelassen. „Organisationen könnten nicht existieren, ohne auch mal von ihren eigenen Regeln oder von gesetzlichen Vorgaben abzuweichen“, sagt der Wissenschaftler, der als Berater schon einige Erfahrungen mit korrupten Strukturen in Entwicklungsländern gesammelt hat. Grund seien die zahlreichen, oft widersprüchlichen Ansprüche an das Unternehmen. Um mit Kostendruck und Umweltauflagen zum Beispiel fertig zu werden, sei eine Flexibilität vonnöten. Für diese Regelabweichungen – „hinnehmbare Illegalitäten“ genannt – gebe es allgemein ein „gewisses Verständnis“.

Ähnlich beim Fußball: dass Sponsoren ein positives Umfeld in den Ländern schaffen als Form der legalisierten Korruption, müsse man „erst mal anerkennen“, sagt Kühl. Dies klinge zwar zynisch, „aber die Soziologen meinen das ernst“. Ohne solche notwendige „Übersetzungsleistungen“ müssten sich Sportverbände oder Unternehmen „komplett aus der globalen Wirtschaftspolitik zurückziehen“.

Verhältnisse wie im Kongo

Der Unterschied zu VW ist allerdings, dass die Fifa – ähnlich etwa einem Kabinett im Kongo – eine „große Veranstaltung zur persönlichen Bereicherung“ sei. Sie habe Personennetzwerke als Organisationsprinzip, wie es in Asien, Afrika oder Lateinamerika gelebt wird, stark verinnerlicht. Denn dort ist die Mehrheit der Entscheider zu finden. Die Sensibilität für eine Trennung von Amt und Person ist bei ihnen unterentwickelt, der Tausch von Leistungen üblich. Das Bewerbungskomitee des DFB für die WM 2006 hat dies offenbar für sich ausgenutzt.

Nicht selten sind derlei Sachverhalte bekannt, doch erst ein spezieller Anlass löst die Erregungslawine aus. Siemens hat im Ausland viele Jahre eine Korruptionspraxis gepflegt, um an Aufträge zu kommen – bis 1999 waren Schmiergelder hierzulande sogar noch steuerlich absetzbar. Nachdem die Praxis verboten wurde, hat Siemens nicht schnell genug umgesteuert und wurde später von den medialen Reaktionen überrollt. „Das ist häufig so: Die allgemeinen Regelabweichungen sind so eingespielt und selbstverständlich, dass die Unternehmen von der Skandalisierung völlig überrascht werden“, sagt Kühl. Auch das VW-Management hatte mit der Wirkung der Motormanipulationen nicht gerechnet.

Ist ein Unternehmen erst einmal in die Affäre geschlittert, gibt es aus Sicht des Soziologen gängige Reaktionsmuster: Intern werden die sogenannten Compliance- Regeln zur Gesetzestreue verschärft, die entsprechende Abteilung bekommt eine größere Bedeutung, und bestimmte Verantwortliche müssen gehen.

„Show-Management“ bei Volkswagen

Nach wenigen Jahren jedoch stelle man fest, dass die Flexibilität darunter leidet, wenn man sich dauerhaft an die Compliance-Regeln hält – also werden diese nach und nach wieder aufgeweicht. „Ihre Verschärfung ist also vorrangig ein Show-Management, das dazu dient, Legitimation wiederherzustellen“, sagt Kühl. Deutlich werde dies bei Volkswagen: Die Abwerbung der Rechtshüterin von Daimler, Christine Hohmann-Dennhardt, sei lediglich Symbolpolitik adressiert an die Medien und Strafverfolgungsbehörden – ein Zeichen, dass VW auf dem besten Wege sei, den Schlamassel in Ordnung zu bringen.

Von einem ehrlichen Wandel kann deshalb nicht die Rede sein, zumal auch hierzulande die Grenzen des Erlaubten täglich neu ausgelotet werden: Gemeint ist die enge Verbindung insbesondere der Automobil-, Energie- und Pharmaindustrie zur Politik, die Behörden latent in Abhängigkeiten bringt. „Damit finde nicht automatisch etwa Illegales statt, sondern es werden bestimmte Gesetze produziert, die für die Wirtschaft sehr förderlich sind“, sagt Kühl. „Erfolgreiche Lobbyarbeit“ sei das.

Mit anderen Worten: Deutschland bietet Tricksern und Täuschern einen reichhaltigen Nährboden. Wir haben uns nur allzu sehr daran gewöhnt. Doch zuweilen bekommen an sich alte Informationen plötzlich eine ganz neue Dimension. Dann ist das Entsetzen besonders groß – und Lichtgestalten erweisen sich als Menschen mit ganz gewöhnlichen Schwächen.