Die Lieferung eines russischen Raketenabwehrsystems in die Türkei hat begonnen. Reagiert Washington nun mit Sanktionen gegen den Bündnispartner in Ankara?

Istanbul - Die Ankunft riesiger Transportflugzeuge des russischen Typs Antonow am Freitag auf der türkischen Luftwaffenbasis Mürted bei Ankara markierte den Beginn eines neuen Kapitel in der türkisch-russischen Zusammenarbeit – und möglicherweise den Start des schwersten Zerwürfnisses zwischen der Türkei und den USA seit fast einem halben Jahrhundert. Die Antonows brachten Teile des russischen Flugabwehrsystems S-400 ins NATO-Land Türkei. Ankara hat die S-400 gekauft, obwohl die USA der Türkei dafür mit Sanktionen drohen. Die langjährige Verankerung der Türkei im Westen lockert sich weiter.

 

Noch vor wenigen Tagen hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan das Geschäft mit Russland gegen die Kritik aus Washington verteidigt. Der Deal werde nicht mehr abgeblasen, sagte er. Seine Regierung fühlt sich im Recht. Da die USA die Lieferung ihres eigenen Patriot-Systems verweigert hätten, habe sich die Türkei nach anderen Anbietern umsehen müssen, lautet das Argument. Russland biete hochmoderne Technik, gute Preise und Lieferzeiten sowie den für die türkische Rüstungsindustrie wichtigen Technologie-Transfer. Die Türkei zahlt 2,5 Milliarden Dollar für zwei Batterien der S-400.

Kurse an der Istanbuler Börse gaben nach

Der Verweis auf die russische Hochtechnologie spielt auch für die USA eine Rolle, wenn auch ganz anders als auf der türkischen Seite. Washington befürchtet, dass Moskau die S-400 dafür benutzen wird, westliche Rüstungsgüter auszuspionieren. Das betrifft vor allem den neuen Kampfjet F-35, von dem die Türkei bei den USA 116 Stück bestellt hat. Die Amerikaner verweigern der Türkei wegen der S-400 die Auslieferung der ersten Maschinen und drohen damit, das Land ganz aus dem F-35-Programm zu werfen. Washington sagt zudem, dass die S-400 nicht mit den Systemen der NATO kompatibel sei. Damit werde die integrierte Luftverteidigung der Allianz geschwächt.

Nun muss Ankara mit US-Sanktionen rechnen. Ein amerikanisches Gesetz verpflichtet die Regierung in Washington zu Strafmaßnahmen gegen Länder und Unternehmen, die in großem Umfang russische Militärtechnologie kaufen. Zu den möglichen Schritten gehören Exportverbote, Einschränkungen für Bankgeschäfte und ein Verbot für US-Institutionen, türkische Anleihen zu kaufen. Die Sanktionen könnten schwere Folgen für die ohnehin angeschlagene türkische Wirtschaft haben. Die Kurse an der Istanbuler Börse gaben am Freitag nach, und auch die Lira verlor gegenüber Dollar und Euro.

„Schwerste Krise seit mehr als 40 Jahren“

Dass Erdogan trotz alledem bisher nicht von den S-400 abrückt, liegt an seinem Vertrauen in Donald Trump. Der türkische Staatschef betont, sein amerikanischer Kollege habe ihm persönlich versichert, dass es keine Sanktionen geben werde. Viele Experten halten das aber für Wunschdenken: Trump kann nach den US-Gesetzen die Sanktionen nicht verhindern, sondern lediglich hinauszögern. Im US-Kongress dringen viele Politiker auf einen harten Kurs gegenüber Ankara.

Soner Cagaptay vom Washingtoner Institut für Nahost-Politik erwartet deshalb die „schwerste Krise im US-türkischen Verhältnis seit mehr als 40 Jahren“, wie er unserer Zeitung sagte. Cagaptay bezog sich damit auf Spannungen Mitte der 1970er Jahre. Damals verhängten die USA wegen des türkischen Einmarsches in Zypern ein Waffenembargo gegen den NATO-Partner. Die Krise war nach drei Jahren ausgestanden. Diesmal könnte es wesentlich länger dauern, befürchtet Cagaptay.

Loslösung der Türkei vom Westen?

Der Streit um die S-400 facht auch die Diskussion über die Loslösung der Türkei vom Westen an. Russland erzielt einen neuen Erfolg beim Versuch, einen Keil in das westliche Bündnis zu treiben. Die Nato zeigte sich am Freitag „besorgt“. Marc Pierini, Ex-Botschafter der EU in Ankara, unterstrich in einer Analyse für das Carnegie Nahost-Zentrum, mit einer Stationierung der S-400 werde das Abdriften der Türkei vom Westen Wirklichkeit. Das Vertrauen westlicher Staaten in die Türkei sei ohnehin bereits geschwächt.

Die Diskussion ist keine theoretische Angelegenheit. Pierini zum Beispiel wirft die Frage auf, wie sich die Türkei bei der nächsten Krise in der Ukraine verhält, wenn sie zwei russische Raketen-Batterien nebst russischen Spezialisten im Land hat. Auch die Zukunft von US- und NATO-Streitkräften auf drei Militärstützpunkten in der Türkei – Incirlik, Konya und Malatya – dürfte debattiert werden.

Die militärische Zusammenarbeit zwischen der Türkei und den USA werde möglicherweise auf Jahrzehnte hinaus unterminiert, sagt Aykan Erdemir von der Denkfabrik FDD in Washington. Verantwortlich sei Erdogan. Er unterliege dem Irrglauben, Trump werde das Ding schon schaukeln. Aber Schuld an dieser Krise „sei allein Erdogans verfehlte Politik“.