Philipp Löhles Episodenstück „Feuerschlange“ feiert in der Spielstätte Nord des Schauspiels Stuttgart Premiere. Mit bleischweren Monologen und zu wenig Struktur macht der Regisseur Dominic Friedel seinen Darstellern das Leben schwer. Nur die Kindertruppe bringt Schwung in die Sache.

Stuttgart - Wenn das Sturmgewehr G36 schief schießt, ist ganz klar der Rohrmeister schuld. Also derjenige, der eigentlich schon in der Fabrikhalle ein Auge darauf haben sollte, dass die Waffenläufe auch ja gerade sind. Mit entschuldigend angezogenen Schultern sitzt genau der nun auf einer kantigen Holzkonstruktion und erzählt in trüber Wortknappheit, durch wie viele Rohre er bei Baden-Württembergs größtem Waffenhersteller am Tag so schauen muss. Ein Job eben, ein anstrengender noch dazu. Aber Waffen mache er nicht, stammelt er und schüttelt fast angewidert den Kopf. Er schaue nur durch Rohre. Es geht natürlich trotzdem nicht, das mit dem schief Schießen, soviel sieht er ein. Man produziert hier schließlich deutsche Qualitätsware. Einen Moment lang möchte man ihm den verblendeten Kopf tätscheln.

 

Dass jene Schusswaffen auch abseits der Bühne aus der schwäbischen Einöde ins Ausland geschafft werden, ist inzwischen wohl für kaum jemanden mehr eine große Überraschung. Schließlich ist die Bundesrepublik der weltweit drittgrößte Waffenexporteur, und nicht nur syrische Rebellen schießen mit deutschem Qualitätsgut, auch in den Händen korrupter mexikanischer Propagandisten tragen die Sturmgewehre unkommentiert ihren Teil zur Destabilisierung der ohnehin bereits krisenhaften Gebiete bei. Viele der exportierten Waffen stammen dabei aus den Fabrikhallen des schwäbischen Rüstungsunternehmens Heckler & Koch, das auf der Bühne des Nord zum gewitzten Intriganten „Lekker und Loch“ wird. In seinem eigens für das Staatstheater entwickelten Stück „Feuerschlange“ verarbeitet Philipp Löhle so die zahlreichen Ent- und Verwicklungen der hiesigen Waffenindustrie zu einem Bündel an gewitzten Entrüstungsfantasien. Nur auf der Bühne wollte sein Ansatz bei der Premiere am Samstag partout nicht funktionieren.

Die Schauspieler müssen elliptische Textberge stemmen

Aber von vorne: 15 frei kombinierbare Episoden, die – mal mit versteckt ironischem Unterton, mal offen hyperbolisch – die Verstrickungen der deutschen Waffenhersteller in gewalttätige Auseinandersetzungen auf der ganzen Welt deutlich machen, hat Löhle für sein Auftragswerk entwickelt. Viele der fein durchkomponierten Subplots überraschen dabei auf dem Papier mit einer parodistischen Cleverness, die mit wenig Mühe Bilder von Korruption, Gier und Terror hervorrufen könnte – und dabei auch noch lustig wären. Doch auf der Bühne hat das Konzept so seine Schwierigkeiten: Schuld daran ist vor allem Dominic Friedels über weite Strecken undurchsichtige Inszenierung. Nicht nur bleiben viele der eigentlich starken Episoden durch ihre allzu sprunghafte Verknüpfung lose im Raum hängen, auch der Ton des Stücks schwankt immer wieder fast fragend zwischen düsterer Märchenerzählung, blecherner Gesetzestext-Leierei und stellenweise schwer zu folgenden Ein-Mann-Auftritten hin und her. Aus den Dialogen macht Friedel zum Großteil Monologe, bei denen die fünf Schauspieler seitenweise elliptische Textberge stemmen müssen, während sie unter den Mühen immer wieder einbrechen und oft nur halbwegs unbeschadet durch ihre Szenen kommen.

Dass die Sache mit den sperrigen Wortungetümen auf der Bühne durchaus funktionieren kann, soll hier gar nicht in Frage gestellt werden, sonst wäre René Pollesch wohl schon seit einiger Zeit arbeitslos. Doch in Löhles „Feuerschlange“ raubt die bewusste Verdichtung der Dialoge ihnen oft ihren komödiantischen Effekt: So kämpft sich beispielsweise Horst Kotterba, dem sein komisches Potenzial normalerweise nicht abzusprechen ist, sichtlich angestrengt und in einem allzu albernen Hasenkostüm durch ein zum Monolog umgeschriebenes Streitgespräch zwischen Auswärtigem Amt, Wirtschafts- und Verteidigungsministerium. Doch statt die deutsche Behördenträgheit zu verdeutlichen, zeigt sich dabei vor allem das Ausmaß des verschenkten Potenzials: Der eigentlich herrlich zugespitzte Dialog zwischen den schwerfälligen Institutionen wird durch die Monologisierung, die Kotterba zwingt, alle sperrigen Rollennamen vor den eigentlichen Text zu setzen, um überhaupt kenntlich zu machen, wer da gerade spricht, zu einem verkrampften Kalauer-Feuerwerk, dem jegliche Spontanität verloren geht.

Mit der Kindertruppe gewinnt die Inszenierung an Schlagkraft

Einzig an den Stellen, an denen zu den fünf Ensemblemitgliedern zusätzlich einige Kinderdarsteller kommen, gewinnt die Inszenierung an Schlagkraft. 14 Stuttgarter Kinder bilden einen scharfkantigen, zielsicher gesetzten Anti-Punkt in der schwerfälligen Dramaturgie – und das wirkt. Mal überrollen sie das Publikum als perfekt einstudierter Sprecherchor mit ihren eigenen Moralvorstellungen, mal setzen sie den entscheidenden Kontrapunkt zu der oft düsteren Thematik. Am vorderen Bühnenrand stehen dann zum Beispiel drei adrett gekleidete Mädchen und erzählen in all ihrer Lieblichkeit die verstörende Geschichte ihrer Söhne: Der Matthias nämlich habe sich bei der Bundeswehr eingeschrieben, den Devid hingegen habe es zu den „Radikalidingsda“ in den Mittleren Osten verschlagen – wo sich schließlich beide mit den tödlichen Qualitätswaffen gegenüberstehen. „So zumindest könnte es sein. Wenn wir denn Mütter wären“, sagt eines der Mädchen schließlich und rundet mit entzückend ahnungslosem Schulterzucken ihre Erzählung ab. Das Publikum lacht verhalten, weil das Thema ja eigentlich nicht zum Lachen ist, aber die Kinder doch zu drollig sind, um es nicht zu tun.

Genau diese Reibung zwischen maschinenpistolenartigen Wortattacken und aufgeregt glänzenden Kindergesichtern lässt die Doppelmoral des Themas das erste Mal wirklich offen zu Tage treten. Denn auf den ersten Blick wirkt die ganze Angelegenheit doch ganz in Ordnung, oder? „Lekker und Loch“ ist eben eine große Fabrik in einem kleinen Provinzort. Und ja gut, dann sind es eben Waffen, die da hergestellt werden. Aber denken Sie auch mal an die ganzen Arbeitsplätze, hm? Doch hinter der zurechtgebogenen Kleinstadt-Attitüde steckt das Grauen, das auf der Bühne offensichtlich wird: Denn die zerfetzte Visage des Krieges bleibt in der pittoresken Beschaulichkeit der schwäbischen Provinz eine ebenso gut verdrängte Ungeheuerlichkeit wie niedliche Kinder, die mit hinreißendem Lächeln „Radikalidingsda“ sagen und so von Tod und Terror erzählen.