Barrie Kosky inszeniert in Bayreuth „Die Meistersinger von Nürnberg“ zunächst als überkomische Oper, die dann doch in ein Trauerspiel umschlägt. Am Ende steht die Frage, wie wir es mit der „heil’gen deutschen Kunst“ halten.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Bayreuth - Zu den „Meistersingern von Nürnberg“, den Regeln, den Provinzlern und dem ganzen „Blabla“ falle ihm nichts ein, hatte Barrie Kosky, der in Deutschland schon viel Wagner inszeniert hat, der Intendantin Katharina Wagner gesagt, als die ihm die Regie für die Bayreuther Festspiele antrug. Dann begann er das Nachdenken, und es ist ihm im Resultat ähnlich ergangen wie Karl Kraus, der mit dem Satz „Mir fällt zu Hitler nichts ein“ in der „Fackel“ dann doch seinen Essay „Die dritte Walpurgisnacht“ begann. Es folgte, 1933, eine bittere Generalabrechnung.

 

Der Ansatz des 1967 in Melbourne als Enkel russisch-jüdischer Auswanderer geborenen Kosky, des heutigen Intendanten der Berliner Komischen Oper, ist dabei zunächst so einfach wie trickreich: Er nimmt, im ersten Aufzug, Richard Wagners ursprüngliche Absicht ernst, ein Satyrspiel und eine Komödie zu schreiben (die als Titel später gestrichen wurde). Noch ernster – und gleichzeitig hübsch hysterisch hoch – nimmt er Richard Wagner als vollkommen selbstbezogenen Haustheatraliker in seiner Villa Wahnfried.

Bis aufs letzte Buch in der Bibliothek ist in einem Guckkasten auf der Bühne nachgebaut, wie Wagner sich endlich in Bayreuth mit dem Geld, das Ludwig II. aus der Staatskasse abzweigte, generös eingerichtet hatte. Zwischen dem Flügel, aus dem hier später die bezopften Meister purzeln, und dem Sofa regiert der Komponist, der im Salon nur allzu gerne eigene Werke spielen ließ, in denen er selber die Hauptrolle übernehmen konnte. Briefe an seine Frau Cosima unterschrieb er schon mal mit „Hans“, und der ist er, neben dem jungen Stolzing unterm Barrett, auch hier: Wagner verkörpert, nachdem der Beginn der Handlung etabliert ist, vornehmlich den Part des Hans Sachs, Schustermeister und Dichter zu Nürnberg. Die Zeit ist also gleichzeitig 1875 und Reformationsperiode, auch kostümlich. Leute kommen, Leute gehen: Franz Liszt, Cosimas Vater, ist zu Besuch. Man spielt vierhändig Klavier, und Wagner weiß es immer besser. Hunde tollen, Kinder spielen, Türen klappen rasend schnell auf und zu. Und Wagner ist der Obermanipulateur. Nichts geht hier ohne sein Zutun.

Hermann Levi aus Gießen

Kosky befindet sich also auf der einen Seite mitten drin in einem Ernst-Lubitsch-Film beziehungsweise in einer Wagner-Paraphrase, die Woody Allen bisher noch nicht gedreht hat. Andererseits wird gleichzeitig bereits der zweite Handlungsstrang präpariert, die Schattenseite der „Meistersinger“. Es sitzt hier nämlich seit der Ouvertüre auf der Chaiselongue auch Hermann Levi aus Gießen, der Wagner bis an den Rand der Selbstaufgabe ergebene jüdische Dirigent, gestorben und begraben in Garmisch, 1900: gefördert, benutzt und teils sadistisch gepeinigt vom Ehepaar Wagner und dennoch Uraufführungsdirigent des „Parsifal“ in Bayreuth und Wagners Sargträger. Für ihn, der sichtlich widerstrebt, ist der Part des Sixtus Beckmesser vorgesehen, der im Stück haben möchte, was der andere Fremde hier, Walther von Stolzing, bekommt: die Anerkennung und die Braut Eva.

Johannes Martin Kränzle, vor einem Jahr schwer erkrankt, jetzt aber wieder präsent und luzide wie nie, spielt Beckmesser von vorneherein mit inneren Beben als Außenseiter in dieser Welt der prinzipiell Rundumzufriedenen und Selbstgerechten. Nie im Leben, ahnt man, wird der Mann einer der anderen werden. Er bekommt beim Umtrunk keine Kaffeetasse und beim Einzug im dritten Akt keinen Applaus. Der Humanist und Assimilierte, der das Deutsche (und das Musikdeutsch) hier so hochhält wie keiner sonst, verzweifelt und scheitert. An wem?

Barrie Kosky lässt an der Beantwortung dieser Frage – alle Achtung! – keinen Deutlichkeitszweifel. Zu Ende des ersten Aufzugs verschwindet im Handumdrehen die Wagner’sche Privatbühne. Auf der Szene, ganz allein nun, Richard Wagner in der Rolle des Hans Sachs. Die Wand, vor der er steht, ist erstmals Nürnberg (wo der Gauleiter Julius Streicher die Demontage der Synagoge zynischerweise mit dem „Meistersinger“-Ruf „Fanget an!“ einleitete), und zwar der hölzerne Vernehmungsstand der NS-Kriegsverbrecherprozesse von 1945/46 in Raum 600. Und wenn auch Richard Wagner bestimmt nicht den Soundtrack für SA und SS geliefert hat – ein geistiger Wegbereiter der Ausgrenzung, die in Pogrome und final in Massenvernichtung umschlagen würde, war er eben partiell auch. Kosky wirft darauf ein kühles szenisches Schlaglicht, ganz kurz, denn das Stück, voll von „atemberaubender Musik“, wie er sagt und wie immer wieder zu hören ist, sei eben auch „ein unruhiges, beunruhigendes Werk“ . Wichtig hier der Zusatz, der sich im Bayreuther Festspielhaus bis zum Schluss weitgehend zu vermitteln scheint: „Es hängt schlicht davon ab, wer man im Stück und wer man im Publikum ist.“

Bonhommie und Boshaftigkeit

Kosky, der Musiker, ist im Übrigen stets im Einklang mit dem Dirigenten Philippe Jordan, der die Partitur, dynamisch angenehm verhalten, ins flüssige, gut verstehbare Parlando treibt, aber auch immer wieder Phrasen einfriert und sehr großzügig General- zu Denkpausen verlängert. Beide nehmen aus dem Comedy-Kessel im zweiten Akt teilweise die Luft. Über die Bühne – im Hintergrund noch Reste der Nürnberger Wand – ist regelrecht Gras gewachsen, und die Familienaufstellung aufgelöst. Jeder ist jetzt der, der er ist, wobei sich Kosky nur am Rande für die Liebesgeschichte und die hibbelige Eva (Anne Schwanewilms) interessiert. Klaus Florian Vogt als Stolzing ist vokal gestählt, aber auch nicht mehr ganz der silbrig Unbeschwerte von vor Jahren in der Rolle, ein netter Niemand mit einem Gassenhauer. Koskys flackernder, aber klarer Blick ruht auf den herausragenden Antagonisten Hans Sachs (Michael Volle) und Beckmesser.

Volle gelingt es, gleichzeitig Bonhommie wie immer wieder latente Boshaftigkeit zu verströmen. Er ist fast überpräsent im „Wahn“-Monolog und kraftvoll genug bis zum Schluss: Sachs im Quadrat. Kränzle krallt sich förmlich in die Karikatur, zu der Kosky ihn bewusst macht, als er Beckmesser am Ende des zweiten Aufzugs unters Pogromrad der Johannisnacht kommen lässt. Mit dem verzerrten Gesicht eines Schläfenlockenjuden bricht er zusammen, um sich trotzig weiterzuschleppen. Dem Untergang beim Wettsingen und dem endgültigen Verschwinden entgegen.

Wagner dirigiert Wagner

Koskys Perspektiven haben teilweise ihre Rezeptionsvorbilder (unter ihnen Katharina Wagners und Stefan Herheims „Parsifal“ vor Ort). Abgesehen jedoch von der Witzwutperfektion im Detail überhöht er die vorhandenen Ansichten in einem Schlussbild, das allerhand Fragen an die „Meistersinger“ dieser und vergangener Welten bündelt: Wie nämlich, will Kosky wissen, halten wir’s nun wirklich mit der „heil’gen deutschen Kunst“? Seine Schlussansprache jedenfalls hält Hans Sachs, der nun wieder Wagner ist, ohne Publikum.

Hier ist kein Volk mehr, weit und breit. Ersatzhalber kommt es zur feierlichen Abendkulturveranstaltung von heute. Chor und Orchester (pantomimisch agierend) werden hereingefahren. Und Richard Wagner dirigiert Richard Wagner, was nicht nur Richard Wagner offenbar sehr viel Freude macht. Sogenannte Hochkultur also, museal arrangiert, basierend auf etlichen niedersten Instinkten. Barrie Kosky, vorwiegend beklatscht, aber auch ausgebuht, hat im Verlauf des Stücks, das er trotz aller Nahaufnahmen auf Distanz hält, hocheinfallsreich seine inneren Zweifel angemeldet und teils insistierend Fragen gestellt. Kann man an der seltsamen Kultstätte Bayreuth mehr tun? Kaum.