Die größte Wahl der Welt zieht sich in Indien über fünf Wochen hin. Einige Bundesstaaten haben bereits abgestimmt, in dieser Woche wird über 177 der 543 Parlamentssitze entschieden. Mischt eine Protestpartei das Feld auf?

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Stuttgart - Der 31. Juli 2012 ist ein heißer Tag in Indien gewesen. Deswegen ist er aber nicht in die Geschichtsbücher eingegangen. Vielmehr war es der Tag, an dem Indien den bisher größten Stromausfall der Geschichte erlebte. Auf der ganzen Welt sind noch nie so viele Menschen mit einem Schlag ohne Licht und Klimaanlage gewesen wie an diesem Dienstag, mehr als 600 Millionen. In der Aufarbeitung des Ereignisses ging es um veraltete Leitungen und massive Defizite bei der Stromproduktion. Und ganz nebenbei wurde bekannt, dass etwa 300 Millionen Menschen im Land auch dann keinen Zugang zur Elektrizität haben, wenn diese ganz ordnungsgemäß durch die Leitungen fließt. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. So wie sich überhaupt wenig verbessert hat in den vergangenen fünf Jahren, in denen Manmohan Singh die Regierung führte. „Power failure“ – das steht im Englischen sowohl für Stromausfall als auch für Machtversagen. Wenn die Kongresspartei von Premier Manmohan Singh, der selbst nicht mehr zur Wiederwahl antritt, bei den derzeit laufenden Parlamentswahlen einen Denkzettel kassiert, dann liegt das am „Power failure“ im doppelten Sinn.

 

Indien steht für Weltklassefirmen im Technologiebereich

Es ist noch nicht so lange her, da haben die Analysten nach Asien geschaut und hochgerechnet, ob der Griff nach den Sternen in China oder in Indien größere Erfolge zeitigt. Davon ist nicht mehr viel übrig. Die Wirtschaft wächst in beiden Ländern bei Weitem nicht mehr so kräftig wie noch zu Beginn des Jahrtausends. In China ist das Führungsduo mit Präsident Hu Jintao und Premier Wen Jiabao vor eineinhalb Jahren planmäßig abgetreten. Viele der drängenden Probleme des Landes sind geblieben. In Indien ist die Situation dramatischer. Die Vetternwirtschaft hat endemische Ausmaße angenommen. Gegen ein Drittel der Abgeordneten laufen Strafverfahren, die Korruption bestimmt den Alltag auf sämtlichen Ebenen. Indien steht für Weltklassefirmen im Technologiebereich – aber auch für bitterste Armut und ein Kastenwesen, das auf dem Papier verboten ist, sich in der Praxis aber so allgegenwärtig zeigt wie die heiligen Kühe auf den Straßen. Nun ist die Kuh auch noch Wahlkampfthema.

Die Hindu-Partei Bharatiya Janata Party (BJP) plant im Bundesstaat Rajasthan ein Ministerium zum Schutz der Kühe, und der Spitzenkandidat der Partei, Narendra Modi, wirft seinen Gegnern vom noch regierenden Kongress vor, den Handel mit Rindfleisch fördern zu wollen. In einem Land, in dem selbst McDonald’s keine Burger aus Rindfleisch anbietet, sondern lieber auf Vegetarisches oder den McMaharadscha aus Lamm setzt, hat das Thema enormes Konfliktpotenzial. Heerscharen von muslimischen Taxifahrern verraten den Ausländern auch ungefragt, wo es die besten Steaks der Stadt zu essen gibt.

Die Chancen der regierenden Kongress-Partei sind gering

Rund 180 Millionen Moslems leben in Indien; von ihnen dürften nur die wenigsten für Modi stimmen. Als es im Jahr 2002 zu blutigen Ausschreitungen gegen Moslems kam, hat der damalige Chefminister des Bundesstaates Gujarat nicht eingegriffen. Die USA haben ihm daraufhin die Einreise verwehrt, indische Gerichte haben kein Fehlverhalten feststellen können. Der dauerhaft schwelende Konflikt zwischen der hinduistischen Mehrheit, die etwa 80 Prozent der Bevölkerung stellt, und der mit 13 Prozent größten Minderheit der Moslems wird unter Modi eher an Schärfe gewinnen. Doch vor allem der Mittelstand hofft auf Modi als einen Mann der Tat. Sein Bundesstaat Gujarat glänzt noch mit Wirtschaftszahlen, die an bessere Zeiten erinnern. Schon bevor die erste Wählerstimme am 7. April abgegeben wurde, brannte an den Börsen ein Kursfeuerwerk ab.

Die Chancen, dass die regierende Kongress-Partei erneut die Mehrheit bekommt, sind äußerst gering. Deren Spitzenkandidat heißt Rahul Gandhi. Der Name war in Indien lange Programm. Sein Vater Rajiv war Regierungschef, die Großmutter Indira Regierungschefin, der Urgroßvater Jawaharlal Nehru ebenfalls Regierungschef. Dass der 44-jährige Rahul Gandhi in diese Fußstapfen tritt, scheint unwahrscheinlich. Sein Auftreten im Wahlkampf hinterlässt bei zahlreichen Beobachtern den Eindruck, hier bewerbe sich jemand, weil er dies der Familiendynastie schuldig sei. Engagement und Begeisterung vermag er nicht einmal bei seinen Anhängern recht zu vermitteln.

Das indische Mehrheitswahlrecht hat seine Tücken

Doch auch wenn die indischen Meinungsforscher den BJP-Kandidaten Modi ganz vorne sehen – sicher ist sein Sieg keinesfalls. Das indische Mehrheitswahlrecht hat seine Tücken, und der Wähler ist unberechenbar. 2004 sahen die Auguren schon einmal einen Sieg der BJP voraus und mussten sich korrigieren. Bei den vergangenen Wahlen vor fünf Jahren war im Vorfeld von einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der BJP und der Kongresspartei die Rede – am Ende stand ein klares Ergebnis: 206 Sitze für die Kongresspartei, nur 116 für die Hindunationalisten. Und anders als 2009 ist die Situation in diesem Jahr noch unübersichtlicher geworden.

Denn in der zerklüfteten Parteienlandschaft ist ein Mitspieler aufgetaucht, dessen Anziehungskraft sich nicht vorhersagen lässt. Von den etwa 500 Parteien, die sich zum Teil nur in einzelnen Bundesstaaten und dort manchmal nur in wenigen Bezirken zur Wahl stellen, spielt neben dem Kongress und der BJP wohl auch die Aam Aadmi Party (AAP) eine größere Rolle auf der nationalen Ebene. Die Protestpartei hat in Arvind Kejriwal einen charismatischen Spitzenkandidaten aufzubieten, der schon mal im überfüllten Vorortzug zu den Wahlveranstaltungen reist.

Viele Wähler können weder lesen noch schreiben

Mehr als ein Viertel aller indischen Wähler können weder lesen noch schreiben – traditionell schmücken sich die Parteien daher mit Symbolen. Für die AAP steht da ein Besen – in den Augen ihrer Anhänger dient der zum Ausmisten: Kampf gegen die Korruption und Misswirtschaft ist das Hauptthema, mit dem es im Stadtstaat Delhi im vergangenen Dezember auf Anhieb gelang, 28 der 70 Sitze zu gewinnen. Kurzzeitig stellte die Partei des einfachen Mannes dort eine Minderheitsregierung. Die ist inzwischen nicht mehr an der Macht, doch das könnte nun sogar zu einem Zuwachs an Stimmen führen. Die Schuld am Scheitern trägt nach Ansicht zahlreicher AAP-Anhänger die etablierte Konkurrenz.