Für die einen ist die Freiburger OB-Wahl nichts als eine OB-Wahl. Andere sehen darin jedoch die Warnung an Winfried Kretschmann, das grün-alternative Milieu nicht zu vernachlässigen.

Stuttgart - Am Tag nach der Freiburger OB-Wahl steckt Baden-Württemberg mitten im heißen Landtagswahlkampf. Der Termin dafür ist zwar erst im Frühjahr 2021, und auch Plakate kleben noch nirgendwo, aber das hindert die politischen Kämpen nicht, kraftmeierisch das Ende der grün-schwarzen Koalition zu beschwören. „Das Haltbarkeitsdatum ist einfach überschritten“, befindet zum Beispiel SPD-Generalsekretärin Luisa Boos, spricht vom „Signal für die Landespolitik“ und scheint noch ganz beseelt davon, dass der von ihr unterstützte Kandidat Martin Horn (parteilos) den Freiburger Sonnenkönig Dieter Salomon (Grüne) vom Thron gefegt hat.

 

Auch die Linke saugt am Montag viel Honig aus dessen 30-Prozent-Klatsche. Doch am euphorischsten kommentiert Hans-Ulrich Rülke das, was sich da am Vorabend in der viertgrößten Stadt des Landes zugetragen hat. Eigentlich wollte der FDP-Landtagsfraktionschef am Montag ja nur eine scharf gewürzte Bilanz der ersten beiden grün-schwarzen Regierungsjahre auftischen. Schließlich hat sich zuletzt so mancher Konflikt zusammengebraut in dem ungleichen Bündnis – Motto: Haust du meine Wahlrechtsreform, hau ich deine Landtagsvizepräsidentin. Doch nun fällt Rülke auch noch die Kapitulation der südbadischen Grünen-Festung in den Schoß. Und das ist für ihn der Anfang vom Ende der Regierung. „Freiburg hat auch Grün-Schwarz im Land abgewählt“, verkündet er lauthals und dient sich prompt als Mehrheitsbeschaffer an.

Kretschmanns Freund Salomon ist gestürzt

Kann man der Opposition das Triumphgeheul verübeln? Zum ersten Mal seit der Landtagswahl scheint ja nun wieder Bewegung in das Kräftegefüge gekommen zu sein – mit einem Ministerpräsidenten im Zentrum, der so unverrückbar erschien wie ein Granitfels. Dass dieser nun ausgerechnet kurz vor seinem 70. Geburtstag mit ansehen muss, wie sein alter Freund Dieter Salomon strauchelt und fällt, den er doch insgeheim gern als Nachfolger im Regierungsamt gesehen hätte, regt natürlich die Fantasie der Konkurrenz an. Schließlich fuhr der smarte Freiburger einen ähnlich pragmatischen politischen Kurs wie der knorrige Stuttgarter. Und er liegt seit jeher auch mit den Linken über Kreuz.

Noch vor wenigen Tagen hatte Kretschmann versucht, seine ganze Autorität in Freiburg in die Waagschale zu werfen. Salomon, schon im ersten Wahlgang schwer angeschlagen, hatte ihn um Hilfe in Form eines öffentlichen Gesprächs auf dem Rathausplatz gebeten – moderiert von der Bundestagsabgeordneten Kerstin Andreae. Doch wie so häufig in solchen Fällen ging der Schuss nach hinten los. Beide hätten ein „wenig inspiriertes Weiter-so“ vermittelt, berichtete das alternative Radio Dreyeckland von der schwach besuchten Veranstaltung. Selbst Grünen-Anhänger konstatierten eine „Schlappe“.

Ist Freiburg also wirklich der Wendepunkt auf dem Weg der baden-württembergischen Grünen zu einer bürgerlichen oder gar Volkspartei? Lassen sich daraus tatsächlich Rückschlüsse für den Kurs ziehen? Dass die offiziellen Grünen dies bestreiten, liegt natürlich auf der Hand. Die Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck bringen Salomons Niederlage am Montag ebenso mit „lokalen Entwicklungen“ in Zusammenhang wie die Landesvorsitzenden Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand. Nach 16 Jahren sei es eben in vielen Kommunen so, dass die Leute jemand anderen an der Spitze wollten. „Lassen wir mal das Münster in Freiburg“, sagt Baerbock.

„Kein Hinweis auf Unzufriedenheit mit Grün-Schwarz“

Auch neutrale Beobachter stützen die These von der rein lokalen Bedeutung der Wahl: „Aus meiner Sicht ist das Scheitern von Salomon bei der OB-Wahl kein Hinweis auf Unzufriedenheit mit Grün-Schwarz auf Landesebene“, sagt etwa der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim.

Die Freiburger hätten sich schlicht jemand Neues gewünscht – und der Amtsinhaber selbst habe es versäumt, eine Allianz zu schmieden. Denn seine Gegenkandidatin im alternativen Spektrum habe mit 25 Prozent ja stark abgeschnitten, sagt Brettschneider unserer Zeitung. Auf diesen Umstand weist auch Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer hin, der in der Freiburger OB-Wahl eine OB-Wahl sieht: „Und sonst nichts.“

Und doch gibt vielen kritischen Köpfen bei den Südwest-Grünen das Ergebnis zu denken. Auch der eine oder die andere aus der Führungsebene bezweifelt – natürlich hinter vorgehaltener Hand –, ob das blinde Vertrauen in die guten Umfragewerte und die hohe Beliebtheit des Ministerpräsidenten in der Bevölkerung ausreichen, um weiterhin Wahlen zu gewinnen. „Das ist ein hartes ‚Hallo wach‘ und darf nicht allein auf das Konto von Salomon verbucht werden“, sagt ein früheres Vorstandsmitglied. Wenn etwa die Grünen-Wissenschaftsministerin Theresia Bauer Studiengebühren für Ausländer einführe, dann irritiere dies das klassisch grüne Milieu nicht nur in Freiburg, sondern auch in anderen Regionen. In den grün-alternativen Kreisen sei das Grummeln unüberhörbar, heißt es. Doch noch sei der Ministerpräsident sakrosankt, und niemand könne gegen die guten Umfragewerte argumentieren. Satte 32 Prozent hat das Meinungsforschungsinstitut Forsa Ende Februar zuletzt für die Grünen ermittelt, das sind fast zwei Prozentpunkte mehr als bei der Landtagswahl. Die CDU hingegen verharrt bei 27 Prozent. Doch viele in der Partei trauen dem Frieden nicht.

Stammwählerschaft vergrätzt?

Vor allem mit seinem Rückzug von der Reform des Landtagswahlrechts hat Kretschmann offenbar mehr Grünen-Anhänger verprellt, als auf den ersten Blick erkennbar. „Der hat doch intern immer gesagt, dass das Thema den Bürgern und ihm selbst egal sei“, sagt ein hochrangiges Parteimitglied. Doch damit habe er die Bedeutung der Frauenförderung für die Grünen-Milieus unterschätzt. Damit habe er die Stammwählerschaft vergrätzt. Ein früherer Funktionär der Ökopartei kommt deshalb zum Schluss: „Die Lehre aus Freiburg muss sein: CDU-Stimmen allein reichen nicht.“

Auch bei den links dominierten Bundes-Grünen, wo Kretschmann mit seinem wirtschaftsfreundlichen Kurs wenig Anklang findet, wird der Freiburger Wahlsonntag als Beleg für die eigenen Vorbehalte gesehen. „Das Modell der Öffnung der grünen Partei nach rechts hat in Freiburg einen größeren Kratzer bekommen“, schreibt etwa der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt am Montag auf Twitter.

Die christdemokratische Konkurrenz verfolgt das Geschehen natürlich aufmerksam, denn Kretschmann ist als Person ein Angstgegner, und sein konservativer Kurs wird nicht selten als Wilderei im angestammten Forst angesehen. „Die erfolgsverwöhnten Grünen und Kretschmann sind nun in der Realität angekommen“, meint CDU-Fraktionsvize Nicole Razavi, „denn sie erleben zum ersten Mal, dass sich das Blatt auch wenden kann.“

Zieht Kretschmann nun Konsequenzen aus der Freiburger Schlappe? Das bezweifeln Weggefährten. Seine Politik sei ja nicht taktisch begründet, sondern komme aus Überzeugung, sagt einer. Aus Freiburg könne man allenfalls lernen, dem Wähler gegenüber stets demütig zu sein. Soll heißen: Die Niederlage geht auf Salomons Konto.