Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Immerhin, die Verwaltung hat den Giebel nicht vergessen. Im Gegenteil, der Stadtteil genießt seit 2006 eine spezielle Förderung im Rahmen des Programms „soziale Stadt“, Kommune, Land und Bund schießen gleichermaßen etwas zu. Von dem Geld bekam unter anderem der Ernst-Reuter-Platz neue Bodenplatten spendiert, außerdem wurde ein Landschaftsarchitekt beschäftigt und ein Springbrunnen eingerichtet und Giebel bekommt ein Bürgerhaus mit Kita und Jugendhaus.

 

Hans-Martin Goedes Tour durch den Giebel führt jetzt in die schönsten Ecken des Stadtteils. In die Rappachsiedlung zum Beispiel, wo die Menschen in ihren eigenen vier Wänden leben: Gartenstadtidylle in unmittelbarer Nähe zur Rappachschule und zum freien Feld. Im Giebel hat man Natur vor der Haustür, außerdem zwei Stadtbahnhaltestellen, Läden für den täglichen Bedarf, künftig auch eine Kita. Sogar die Sonne scheint. Eigentlich verwundert es nach dem einstündigen Spaziergang, dass dieser Stadtteil überhaupt Probleme hat.

Man sieht sie doch

Aber so ist das vielleicht mit den Enttäuschten, mit den Protestwählern und denen, die für Rechtsaußen stimmen: Man sieht und hört sie nicht, erkennt sie kaum, der Protest äußert sich in der Wahlkabine und nicht auf der Straße.

Denkt man und begegnet prompt einer Ausnahme. Ein vorbeispazierender Mann wundert sich über den Besucher, der ein seit Jahren leerstehendendes Haus fotografiert. Früher war hier mal ein Getränkeladen drin, heute macht das Gebäude einen schlechten Eindruck. Der ältere Herr in der beigegrauen Jacke fängt ansatzlos an, sich zu beschweren. „Ja ja, fotografieren Sie das ruhig“, sagt er, „das ist ein Schandfleck!“

Auch in einer zweiten Kategorie nehmen die Wähler in Stuttgart-Giebel die unrühmliche Spitzenposition ein: bei der Zahl der ungültigen Stimmen. Fünf Prozent aller Stimmen waren das, ein doppelt so hoher Anteil wie im gesamten Stadtgebiet. Giebel, der Stadtteil der Extrem- und Protestwähler.

Was ist los in diesem Teil Stuttgarts unterhalb des Schlosses Solitude, der von einer Stadtbahnlinie und der Stadtgrenze eingefasst wird? Was treibt die Bewohner von Giebel um? Und wer hilft ihnen, ihre Probleme zu lösen?

Im Lurchweg wird alles besser

An einem sonnigen Tag im Mai liegt der Ernst-Reuter-Platz hell und freundlich da. Hans-Martin Goede grüßt freundlich. Goede ist Kirchengemeinderat, er wohnt auf der anderen Seite der Stadtbahnlinie und betreibt das Onlineportal weilimdorf.de, wo er unter anderem Nachrichten aus Stuttgart-Giebel ins Netz stellt. „Als ich 1998 hierherkam, war der Giebel sowas von kaputt“, erinnert sich Goede. Den Artikel spricht er mit, „man sagt korrekterweise ‚der Giebel’“. Ja, der Mann kennt sich aus hier. Und heute? Ist vieles besser, sagt Goede, „komm, wir machen einen Spaziergang“.

Goede führt den Besucher als erstes in den Krötenweg: Häuser aus den Fünfzigern, „früher ein Brennpunkt, viele Arbeitslose und Sozialfälle in den Wohnungen“, sagt der 43-Jährige, „mittlerweile ist der Bestand saniert“. Zumindest, was die Hausfassaden angeht.

Neben dem Krötenweg liegt der Lurchweg. Nicht nur die Farbe der Bodenplatten, auch die Namen der Straßen in Giebel sagen etwas aus über diesen Stadtteil. Anderswo benannte man die Straßenzüge nach Persönlichkeiten aus der Stadtgeschichte, für Giebel wählte man Kriechtiere.

Hans-Martin Goede Foto: Plavec
Hans-Martin Goede kennt die Probleme von Stuttgart-Giebel – die aktuellen und die gewesenen. Er erzählt, wie aus dem Stadtteil der Sudetendeutschen mit den Jahren ein Stadtteil der Migranten wurde – und der Sozialwohnungen. Der Kirchgengemeinderat weiß zu berichten, dass seine Kinder im Kindergarten noch mit anderen Protestanten in der Mehrheit waren; heute wären sie deutlich in der Minderheit. Goede erwähnt Parkplatzmangel und auch das „Spitzenergebnis“ der Republikaner bei der letzten Kommunalwahl will er nicht wegdiskutieren.

Politiker sind hier selten gesehen

„Dieser Stadtteil wird, so wie der ganze Stuttgarter Nordwesten, von der Politik ein bisschen stiefmütterlich behandelt“, findet Goede. Der Giebel sei erst heruntergekommen, jetzt befinde er sich im Wandel. Dieser Wandel verschrecke die Alteingesessenen. Alles zusammen erzeuge Unzufriedenheit. So erklärt Hans-Martin Goede das Wahlergebnis der Republikaner, so erklärt er auch den hohen Anteil ungültiger Stimmen bei der Kommunalwahl 2009.

Dass Stuttgart-Giebel stiefmütterlich behandelt wird, ist mehr als bloß ein Gefühl von Hans-Martin Goede. Nicht nur geografisch, auch politisch liegt er in der Peripherie. Zwar haben hier wie überall sonst auch die Parteien ihre Plakate an die Straßen gehängt; die Parteien stellen sich mit ihren Ständen auf den Ernst-Reuter-Platz. Das war es dann aber auch schon.

Im Archiv der Nord-Rundschau, also der Lokalausgabe der Stuttgarter Zeitung unter anderem für Giebel, findet sich seit Jahresbeginn genau eine politische Informationsveranstaltung; am 29. April lud die SPD zum Thema „Wohnraum, bezahlbar und gut?“ Mehr nicht. Diese Missachtung ist nichts Neues: Schon im Wahlkampf zur OB-Wahl 2012 war Giebel vom Rest der Stadt abgehängt; in den drei Monaten vor der Wahl verirrte sich kein Kandidat dorthin. Giebel, der vergessene Stadtteil.

Geld für eine „soziale Stadt“

Immerhin, die Verwaltung hat den Giebel nicht vergessen. Im Gegenteil, der Stadtteil genießt seit 2006 eine spezielle Förderung im Rahmen des Programms „soziale Stadt“, Kommune, Land und Bund schießen gleichermaßen etwas zu. Von dem Geld bekam unter anderem der Ernst-Reuter-Platz neue Bodenplatten spendiert, außerdem wurde ein Landschaftsarchitekt beschäftigt und ein Springbrunnen eingerichtet und Giebel bekommt ein Bürgerhaus mit Kita und Jugendhaus.

Hans-Martin Goedes Tour durch den Giebel führt jetzt in die schönsten Ecken des Stadtteils. In die Rappachsiedlung zum Beispiel, wo die Menschen in ihren eigenen vier Wänden leben: Gartenstadtidylle in unmittelbarer Nähe zur Rappachschule und zum freien Feld. Im Giebel hat man Natur vor der Haustür, außerdem zwei Stadtbahnhaltestellen, Läden für den täglichen Bedarf, künftig auch eine Kita. Sogar die Sonne scheint. Eigentlich verwundert es nach dem einstündigen Spaziergang, dass dieser Stadtteil überhaupt Probleme hat.

Man sieht sie doch

Aber so ist das vielleicht mit den Enttäuschten, mit den Protestwählern und denen, die für Rechtsaußen stimmen: Man sieht und hört sie nicht, erkennt sie kaum, der Protest äußert sich in der Wahlkabine und nicht auf der Straße.

Denkt man und begegnet prompt einer Ausnahme. Ein vorbeispazierender Mann wundert sich über den Besucher, der ein seit Jahren leerstehendendes Haus fotografiert. Früher war hier mal ein Getränkeladen drin, heute macht das Gebäude einen schlechten Eindruck. Der ältere Herr in der beigegrauen Jacke fängt ansatzlos an, sich zu beschweren. „Ja ja, fotografieren Sie das ruhig“, sagt er, „das ist ein Schandfleck!“

In seinem Kopf spult es jetzt das volle Programm ab, die Unzufriedenheit mit dem Stadtteil, seinen Bewohnern, vielleicht der Welt insgesamt. „Wir haben noch eine gewisse Erziehung genossen“, sagt der Mann. Seit 1954 habe er im Giebel gewohnt, sei einer der ersten Bewohner gewesen, damals, mit seinen Eltern. Jetzt ziehe er weg, nach Möhringen. Weil, so die Begründung, die Leute hier nicht anständig parkten und Sperrmüll in die Tonnen steckten.

„Die Alten haben gesagt, meine Mutter hat gesagt: Da braucht es einen, der aufräumt“, sagt der ältere Herr. Er denkt dabei an die zahlreichen Migranten im Stadtteil, an die Arbeitslosen, eben an die in den Sozialwohnungen.

Möglich, dass einige der Gemeinten bald wegziehen. Die Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften, die die meisten der Wohnblöcke in Giebel errichtet haben, sind eifrig am Modernisieren und Neubauen – diese Aktivitäten fallen zusammen mit den Maßnahmen aus dem Förderprogramm „soziale Stadt“. Der Giebel wird aufgewertet, die Immobilien- und Mietpreise ziehen an. Mit der neuen Kita wird der Stadtteil für junge Familien attraktiv. Und das Wohnen teurer.

Nicht gelb, höchstens beige

Stefan Berndt findet all das nicht unbedingt gut. Er wohnt seit 25 Jahren hier und er kennt Menschen, die sich die höheren Mieten nicht mehr leisten können. „Es reicht nicht, ein paar Bodenplatten auszutauschen“, sagt der 35-Jährige. Das neue Jugendhaus hätte man vor zehn Jahren bauen sollen, und einen Springbrunnen auf dem Ernst-Reuter-Platz „gab es schon früher, nur war der nie an.“ Jedenfalls „wären die für ihr Programm ‚soziale Stadt’ mal besser rumgelaufen und hätten die Leute gefragt, was sie wollen.“

Möglicherweise tut Berndt dem Programm und seinen Machern damit Unrecht; es gab eine Informationsveranstaltung und Arbeitsgruppen und es gibt bis heute ein Informationsbüro als Anlaufstelle. Stefan Berndt beklagt aber Dinge, die man mit einem Bürgerhaus und neuen Bodenplatten nicht lösen kann. „Die Leute hier interessieren sich nicht füreinander oder schimpfen über die anderen“, berichtet Stefan Berndt. Und: „Die schönen Platten auf dem Ernst-Reuter-Platz sind jetzt auch schon nicht mehr gelb, sondern höchstens beige.“

Eine Frage der Sichtweise

Ist der neue Glanz also schon wieder am Verblassen? Im Giebel ist eben vieles eine Frage der Sichtweise.

Aus der Perspektive von Fritz Mutschler wird im Giebel gerade alles besser, zumindest hübscher. Der SPDler ist Vorsitzender des Bürgervereins Giebel; Hans-Martin Goede bezeichnet ihn als „Mister Giebel“. Mutschler war maßgeblich daran beteiligt, dass der Giebel für das Förderprogramm „soziale Stadt“ ausgewählt wurde. Auch er zeigt dem Besucher die schönen Seiten seines Stadtteils: das schicke Bürgerhaus samt Spielplatz davor, die Baustellen im Lurchweg, die sanierten Wohnblocks. „Sehen Sie, das ist gutes Wohnen, und ich glaube, dass die, die jetzt hier wohnen, 2014 nicht mehr die Republikaner wählen werden“, sagt der 62-Jährige.

Fritz Mutschler erzählt vom Weihnachtsmarkt in Giebel, vom Weinfest und von der Kulturnacht. Am 31. Mai gibt es ein Bürgerfest anlässlich 60 Jahren Stadtteiljubiläums. Feiern kann er, der Giebel, da sind sich alle einig. Einmal Giebel, immer Giebel, sagen sie. Familien sind hier willkommen und die neu gebauten Wohnungen sind alle auf der Höhe der Zeit. Gibt es eine Verdrängung der sozial Schwachen durch die damit zwingend einhergehenden, teureren Mieten? „Ich habe bisher nicht gehört, dass das ein Problem ist“, sagt Fritz Mutschler.

Auf dem Ernst-Reuter-Platz ist der Springbrunnen mittlerweile an. Ein paar Alte sitzen auf den Bänken, zwei Kinder auf Rollerblades versuchen, den Wasserfontänen auszuweichen. Solange die Sonne scheint, leuchten die Bodenplatten in warmem Gelb. Derzeit herrscht im Giebel eine Aufbruchstimmung. Der Stadtteil macht sich hübsch, hier verändert sich etwas.

Die Hoffnung ist groß, dass hier alles besser wird: das Leben, die Bewohnerstruktur, auch die Wahlergebnisse. Die öffentliche Hand hat dafür Geld in die Hand genommen, der Wohnungsmarkt zieht mit. Ob davon die große Mehrheit im Giebel profitiert oder einige wenige darunter leiden, sprich wegziehen müssen: alles eine Frage der Sichtweise.