Mit Prügel und Propaganda reagiert Putin auf Unruhen in seinem Land. Der Frust über die Regierung wächst, aber dennoch kämpft kaum einer für Menschenrechte, analysiert die Moskau-Korrespondentin Inna Hartwich.

Korrespondenten: Inna Hartwich

Moskau - „Mama“, sagt das Kind, „warum sind alle Menschen hier umstellt?“ Die Mutter zieht das Mädchen durch die dicht gedrängte Menge vor dem Moskauer Puschkin-Platz, rät zur Eile. „Sie kämpfen für ein besseres Russland“, sagt sie zur Tochter. „Haben wir denn ein schlechtes Russland? Müssen wir auch hier kämpfen?“, setzt die etwa Achtjährige an. „Nastja, meine Gute, sie kämpfen für uns mit. Wir müssen zur Tanzvorführung.“

 

Es ist eine Szene am Rande der Proteste, die sich gegen die Anhebung des Rentenalters in Russland richten. Eine Szene, die auf eine kindliche Art einen Riss durch die Gesellschaft zeigt. Auch wenn die Unzufriedenheit der Russen sinkt, so heißt es selbst bei staatstreuen Meinungsforschern, denkt nur ein geringer Prozentsatz der Bevölkerung an mehr Freiheit oder eine funktionierende Zivilgesellschaft. Für mehr Zufriedenheit wünschen sich die Menschen eine soziale Vollversorgung, der sie sich spätestens mit der Rentenreform beraubt sehen. Quer durchs Land demonstrieren sie, seit Russlands Führung ihre Rentenreform vorgestellt hat: Ab kommenden Jahr sollen in einem Stufenmodell Frauen ab 60, Männer ab 65 Jahren in Pension gehen. Bislang bezogen sie ihre Rentenbezüge fünf Jahre früher. Den Protestaufrufen – seien sie von den Kommunisten oder vom Juristen Alexej Nawalny – folgen manchmal zehntausend Menschen. Knapp 90 Prozent der Russen sind gegen die Reform. Nahezu jede Woche gehen sie schon auf die Straße.

Bällebäder und Musik sollen ablenken

Dennoch eint die Opposition das gemeinsame Thema nicht. Auch das macht es der Führung leicht, die Proteste entweder ins Lächerliche zu ziehen – wie im Falle von Nawalny – oder ihnen mit einem leicht durchschaubaren Auftritt des Präsidenten, in dem er den kümmernden Landesvater mimt, den Druck zu nehmen. Das System Putin wankt nicht, auch wenn die Umfragewerte für den Präsidenten in den vergangenen Wochen unter 40 Prozent gefallen sind. Der Apparat setzt die gewohnten Mechanismen ein, um dem Unmut der Menschen entgegenzuwirken. Er setzt auf Propaganda und lässt das Staatsfernsehen eine auf sechs Folgen angelegte Eloge auf den Präsidenten unter dem Namen „Moskau. Kreml. Putin“ singen. In „exklusiven“ Bildern zeigt es, wie Putin Pilze isst und Beeren sammelt, stets im Dienste für sein Volk.

Da diese ratlos stimmende Aktion allein nicht greift, setzt er auf Unterhaltung. Am Tag, an dem in Moskau knapp 2000 meist junge Menschen gegen die Rentenreform und für eine bessere Zukunft demonstrieren, wählt Moskau nicht nur seinen Bürgermeister – mit mehr als 70 Prozent schneidet Sergej Sobjanin, ein loyaler Apparatschik im Putin'schen Sinne, dabei recht erfolgreich ab –, es feiert auch seinen 871. Jahrestag. Die breiten Straßen sind für den Verkehr gesperrt. Es gibt Tanz, Musik, Bällebäder für die Kinder.

Die Menschen erfreuen sich am einfachen Glück

Sowjetische Schlager erklingen durch die Straßen, die Menschen flanieren mit einem Eis in der Hand von der Ballettvorstellung zu Tango-Übungen. Dass nur 100 Meter weiter davon Dutzende junge Menschen unter den Knüppeln von Sonderpolizisten vor Schmerzen schreien, übersehen sie beim Schlürfen ihres Kaffees im wippenden Takt der Musik. Unter neuen Vorzeichen feiern sie das Sowjetische, das längst von der Ideologie befreit ist. Auch zu Sowjetzeiten waren Wahlen Volksfeiertage. Die Menschen erfreuen sich am kleinen Glück der nicht alltäglichen Entspannung, die Mühen des Alltags nehmen sie mit scharfem Zynismus hin. Zumal das System – zeitgleich zum Amüsement – auf Abschreckung setzt.

Mehr als 1000 Demonstranten nimmt die Polizei im gesamten Land an diesem Wahltag fest. Rund um den Puschkin-Platz in Moskau warten Hunderte von Zaungästen. Auch sie sind unzufrieden mit der Regierung. Doch sie lassen andere für sie den Kopf hinhalten. Die Szene mit dem Mädchen und seiner Mutter, die durch die Protestmenge eilen, ist bezeichnend für ein Land, das auch 27 Jahre nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums noch seine Identität sucht.