Müssen die Berliner erneut an die Urnen, nachdem es bei den Wahlen im September 2021 drunter und drüber gegangen war? Für einige Politiker würde dies das vorzeitige Ende ihrer Karriere bedeuten. Juristen und Politiker fordern unterschiedliche Konsequenzen aus dem Wahldebakel.
Kaum im Amt – und schon wieder weg? Dieses Schicksal droht Franziska Giffey, der Regierenden Bürgermeisterin von Berlin, sowie einigen Bundestagsabgeordneten aus der Hauptstadt. Der Berliner Verfassungsgerichtshof wird am 16. November seine Entscheidung über eine mögliche Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl des vergangenen Jahres verkünden.
Wie konnte es so weit kommen? Am 26. September 2021 war Superwahltag in Berlin. Knapp 2,5 Millionen Wahlberechtigte wählten neben dem Bundestag das Abgeordnetenhaus (AGH) – so heißt dort der Landtag – und die zwölf Kommunalparlamente (sie heißen Bezirksverordnetenversammlungen, kurz: BVV). Zudem gab es einen Volksentscheid zur möglichen Enteignung großer Wohnungsbaukonzerne. Die Wähler konnten also auf fünf verschiedenen Zetteln sechs Kreuze machen.
Wählen noch lange nach 18 Uhr
Am Wahltag spielten sich an der Spree Szenen ab, die man so in Deutschland noch nie gesehen hatte: Vor vielen Wahllokalen standen Bürger Schlange, mancherorts fehlten Stimmzettel oder es lagen die falschen aus, viele Wahllokale machten zwischenzeitlich Pause oder ließen Bürger noch weit nach 18 Uhr abstimmen. So konnte mancher, als er wählte, schon auf dem Smartphone die ersten Prognosen und Hochrechnungen zum Wahlergebnis lesen.
Kein Wunder, dass es Einsprüche hagelte. Was die Wahlen zum AGH und zu den BVV angeht, gibt es inzwischen Klarheit. Das Verfassungsgericht von Berlin hat zu erkennen gegeben, dass die Hauptstädter diese Parlamente neu wählen werden. Deshalb muss Giffey nun zittern. Derzeit liegt ihre SPD in den Umfragen nur auf Platz drei, während sich CDU und Grüne mit jeweils etwa 22 Prozent ein demoskopisches Kopf-an-Kopf-Rennen um den Spitzenplatz liefern. Die amtierende rot-grün-rote Koalition kommt aktuell in den Umfragen zwar auf eine Mehrheit – sie wird aber von den Grünen angeführt, die bei einem entsprechenden Ergebnis der Neuwahl des AGH im Frühjahr 2023 dann den Posten des oder der „Regierenden“ für sich beanspruchen würden.
Das Berliner Verfassungsgericht entscheidet allein in puncto AGH- und BVV-Wahlen. Für die mögliche Wiederholung der Bundestagswahl ist der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages zuständig. Bundeswahlleiter Georg Thiel hat im November 2021 Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl eingelegt – und zwar bezogen auf sechs Berliner Wahlkreise: Berlin-Mitte, Pankow, Reinickendorf, Steglitz/Zehlendorf, Charlottenburg/Wilmersdorf sowie Friedrichshain/Kreuzberg. Das Portal „Frag den Staat“ hat seinen 70-seitigen Einspruch veröffentlicht. Wer ihn liest, kommt zu dem Schluss, dass er für alle etwa 1000 Wahllokale der genannten Wahlkreise gilt.
Die komplette Wahl wiederholen?
Dass ein Gremium des Bundestages über Einsprüche gegen die Bundestagswahl berät, ist seltsam. Auf Landesebene übernehmen das die jeweiligen Verfassungsgerichte – genauso, wie es jetzt in puncto AGH und BVV die Richter in Berlin tun. Berät das Parlament selbst, ob seine Wahl ordnungsgemäß und rechtlich sauber war und das Wählervotum korrekt abbildet, steht immer der Eindruck von Befangenheit und parteitaktischen Winkelzügen im Raum.
Dem gibt die Ampel im Ausschuss reichlich Nahrung. So schlägt sie ein ungewöhnliches Novum vor: Die Bürger geben bei der Nachwahl in den 300 Wahllokalen nur eine Zweitstimme ab. Dabei hatte im September 2021 die CDU-Kandidatin Monika Grütters im Wahlkreis Reinickendorf gerade mal 1788 Erststimmen mehr als ihr SPD-Rivale bekommen – und das bei einer Gesamtzahl abgegebener Stimmen von mehr als 182 000.
Grütters’ Mandat steht nicht auf der Kippe – auch wenn es in Reinickendorfer Wahllokalen gemäß dem Plan der Ampel zu einer Neuwahl des Bundestages kommt. Denn dieser gibt den Bürgern bei der Neuwahl ja keine Erststimme. Das dürfte auch die Grünen erfreuen, deren Kandidat im Wahlkreis Pankow 2021 nur recht knapp gegen den SPD-Bewerber gewann.
Je kleiner die Neuwahl ausfällt, umso weniger muss die Berliner FDP fürchten, dass sie künftig nur noch zwei statt drei Parlamentarier stellt.
Linke auf der Kippe?
Bei der Bundestagswahl erreichte die Linkspartei bundesweit nur 4,9 Prozent der Stimmen. Dennoch hat sie eine Fraktion im Bundestag. Denn in drei der bundesweit 299 Wahlkreise siegten ihre Direktkandidaten. In diesem Fall stellt eine Partei so viele Abgeordnete, wie es ihrem Zweitstimmenergebnis entspricht – auch wenn dieses unter fünf Prozent liegt. Zwei der drei Linke-Direktmandate liegen in Berlin (Lichtenberg und Treptow/Köpenick). Da die Ampel will, dass die Bürger bei der Neuwahl keine Erststimmen abgeben, sind Gesine Lötzsch (Lichtenberg) und Parteipromi Gregor Gysi (Treptow-Köpenick) auf der sicheren Seite – und mit ihnen ihre Fraktion.
Doch ganz gleich, was SPD, Grüne und FDP im Ausschuss beschließen: Dagegen wird es Beschwerden in Karlsruhe geben. Sollten die Karlsruher Richter ihren Berliner Kollegen folgen, hieße das: Alles wird in der gesamten Hauptstadt mit Erst- und Zweitstimme wiederholt, die knapp 2,5 Millionen Wahlberechtigten an der Spree bestimmen ihre Vertreter im Bundestag, im AGH und in den BVV neu. Dann könnte es passieren, dass die Linke die Berliner Direktmandate verliert. Dann verbliebe nur noch der Abgeordnete Sören Pellmann im Bundestag.