Vier von fünf Bundestagsfraktionen verständigen sich auf Korrekturen am Wahlrecht. Die Novelle orientiert sich an den Vorgaben des Verfassungsgerichts. Das Manko: das Parlament wird weiter wachsen. Die Zahl der Abgeordneten nimmt tendenziell zu

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Der Kompromiss dieses 24. Oktobers hat eine lange Vorgeschichte. Diese beginnt vor sieben Jahren in Dresden. Dort fand die Bundestagswahl seinerzeit unter kuriosen Umständen statt. Weil kurz vor dem Wahlsonntag ein Kandidat gestorben war, konnten die Wähler erst verspätet abstimmen. Zu jenem Zeitpunkt stand das Ergebnis für den Rest der Republik schon fest. Findige Köpfe haben damals ausgerechnet, dass die CDU wegen der Winkelzüge des deutschen Wahlrechts einen Sitz hinzugewinnen würde, wenn sie in Dresden weniger als 41 225 Zweitstimmen bekäme. So kam es dann auch. Den absurden Effekt nennen Experten negatives Stimmgewicht.

 

Das Verfassungsgericht hat deswegen 2008 das Bundeswahlgesetz gekippt. Es verwarf vor knapp drei Monaten auch die von der schwarz-gelben Koalition beschlossenen Korrekturen. In ihrem Urteil beanstandeten die Karlsruher Richter vor allem zwei Details: zum einen die unbegrenzte Möglichkeit sogenannter Überhangmandate, zum anderen die Frage, wie die Zahl der den Parteien zustehenden Parlamentssitze auf die Bundesländer umgerechnet wird. Ohne Ausgleich wollten die Richter künftig maximal 15 Überhangmandate zulassen.

In manchen Ländern erringt eine Partei mehr Direktmandate

Überhangmandate sind eine Folge des doppelten Abstimmungsverfahrens bei Bundestagswahlen. Jeder Wähler hat dabei ja zwei Stimmen. Mit der Erststimme entscheidet er, welcher Kandidat aus seinem Wahlkreis in den Deutschen Bundestag einziehen soll. Die Sieger in den Wahlkreisen haben auf jeden Fall einen Sitz im Parlament („Direktmandat“).

Wie viele Sitze einer Partei insgesamt zustehen, wird aus den Zweitstimmen errechnet. Nun kommt es vor, dass eine Partei in einzelnen Ländern mehr Direktmandate erringt, als ihr nach den Zweitstimmen Sitze zustehen würden. Diese überzähligen Mandate bleiben erhalten. Das sind die Überhangmandate. 2009 hatte die CDU 21 und die CSU drei Überhangmandate, die SPD eines. Bei früheren Wahlen hatten die Sozialdemokraten stärker profitiert, etwa 1998.

Das Ausgleichsmodell korrigiert Schwächen

Durch Überhangmandate wird das Wahlergebnis verzerrt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das zu vermeiden oder auszugleichen. Die Bundestagsfraktionen haben sich gestern auf ein Ausgleichsmodell verständigt, das sich an der Wahlrechtsnovelle von 2011 orientiert, deren Schwächen aber korrigiert. Die Wählerstimmen werden nach folgendem Verfahren in Mandate umgerechnet: Zunächst werden auf der Basis der jeweiligen Bevölkerungszahl die 598 regulären Sitze im Bundestag auf die Bundesländer verteilt. Daraufhin wird separat für jedes Land aufgrund der Zweitstimmen ermittelt, wie sich dieses Sitzkontingent auf die Landeslisten der Parteien verteilt. Wenn bei dieser Rechnung Reststimmen unberücksichtigt bleiben, weil bei der Zuteilung der Mandate abgerundet werden muss, werden diese Stimmen bundesweit zusammengerechnet. Daraus können sich weitere Mandate ergeben.

Die Überhangmandate bleiben erhalten, werden jedoch ausgeglichen. Die dabei entstehenden Ausgleichsmandate werden nach dem Verhältnis der Zweitstimmen verteilt. Das führt zwangsläufig dazu, dass im Bundestag mehr als 598 Abgeordnete sitzen werden, was eigentlich die Normgröße des Parlaments wäre. Wäre 2009 schon nach dem neuen Wahlrecht abgestimmt worden, dann hätten wir nicht wie heute 620, sondern 671 Abgeordnete. Je schwächer die Volksparteien werden, welche die meisten Direktmandate erobern, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es eine wachsende Zahl von Überhangmandaten gibt. Dieser Effekt ließe sich nur durch größere Wahlkreise oder eine Abschaffung der Landeslisten dämpfen. Der Plan, ein Limit für die Größe des Parlaments festzulegen, wurde verworfen, da sich unter dieser Voraussetzung das Risiko des negativen Stimmgewichts vergrößern würde.