Wahlrechts-Debatte Der „XXL-Landtag“ ist intern als Unwort tabu
Das Parlament steht unter Druck wie schon lange nicht mehr. Doch von einer Selbstbegrenzung will die Mehrheit weiter nichts wissen. Die leidige Debatte soll sich totlaufen.
Das Parlament steht unter Druck wie schon lange nicht mehr. Doch von einer Selbstbegrenzung will die Mehrheit weiter nichts wissen. Die leidige Debatte soll sich totlaufen.
Im Stuttgarter Landtag gilt Albrecht Schütte als einer der klügsten Köpfe. Der CDU-Abgeordnete aus dem Rhein-Neckar-Kreis ist promovierter Physiker und hat etliche Jahre als Unternehmensberater gearbeitet. Wenn er da in eine Firma mit 67 Milliarden Euro Umsatz gekommen wäre und einen Posten mit zwei Promille davon zum Sparen vorgeschlagen hätte, erzählte er neulich als finanzpolitischer Sprecher zum Abschluss der Beratungen im Finanzausschuss, „hätte man uns rausgeworfen“.
Mit den 67 Milliarden meinte Schütte das Jahresvolumen des Landeshaushalts, die zwei Promille sind der Etat für den Landtag. Die Kosten für den parlamentarischen Betrieb, so seine Botschaft, seien mithin zu vernachlässigen. Doch der Christdemokrat dürfte auch um den hohen Symbolwert des Postens wissen. An den Entscheidungen der Abgeordneten in eigener Sache messen viele Bürger, wie ernst es die Landespolitik mit dem Slogan „Erst das Land, dann die Partei, dann die Person“ meint – und ob die Reihenfolge nicht eher umgekehrt sei.
Derzeit stehen die Abgeordneten wie schon lange nicht mehr unter dem Verdacht, zuvörderst an sich selbst zu denken. Als Folge der veränderten politischen Verhältnisse und des neuen Wahlrechts droht der 2026 zu wählende Landtag auf mehr als 200 Sitze anzuschwellen – bei einer Regelgröße von 120. Doch von der sicher wirksamen Gegenmaßnahme, die Zahl der Wahlkreise zu reduzieren, will die Mehrheit der Parlamentarier nichts wissen. Die Mehrheit der Wähler sieht das deutlich anders. Bei einer SWR-Umfrage votierten kürzlich 60 Prozent der Teilnehmer für weniger Wahlkreise, so wie es aktuell ein Volksbegehren fordert. Besonders viele waren es bei CDU, SPD und Grünen – just jenen Fraktionen, die das neue Wahlrecht im Jahr 2022 beschlossen hatten.
Für eine Korrektur zur nächsten Wahl ist es inzwischen zu spät, weil die Vorbereitungen schon angelaufen sind. Vielleicht werde der nächste Landtag sogar kleiner, trösten sich die Koalitionäre, wenn nämlich FDP und BSW an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten. Sollte er jedoch auf 160 oder mehr Abgeordnete wachsen, könne man „noch mal rangehen ans Wahlrecht“, konzedierte CDU-Fraktionschef Manuel Hagel als erster Spitzenpolitiker. Inzwischen verheißt das auch sein Grünen-Kollege Andreas Schwarz. „Für uns ist völlig klar: wenn das Parlament zu groß werden sollte, muss der Gesetzgeber handeln.“ Was genau zu groß wäre, definiert er lieber nicht.
Bisher signalisieren CDU und Grüne keinerlei Bereitschaft, noch in der verbleibenden Legislaturperiode Vorsorge für 2031 zu treffen. Dann müssten sich die neu gewählten Abgeordneten nicht gleich an die eigene Abschaffung machen. Die FDP wiederum, die von 70 auf 38 Wahlkreise runtergehen will, möchte ohne entsprechende Signale keinen weiteren, aussichtslosen Vorstoß unternehmen.
Erst mal nichts tun und schauen, wie es 2026 kommt – das ist derzeit die Devise der Mehrheit. Irgendwann, hofft sie, werde das Thema wieder aus der öffentlichen Debatte verschwinden. Begriffe wie „XXL-Landtag“ oder „Aufblähung“ sind intern als Unworte tabu, die Aussicht darauf sollte erst gar nicht publik werden. Ein Jahr lang blieb ein Rechnungshof-Bericht unter Verschluss, der vor Mehrkosten von bis zu 200 Millionen Euro warnt. Manche Strategen verübeln es der Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) sogar, dass sie auf Rat der Prüfer bereits Pläne für die Unterbringung zusätzlicher Parlamentarier schmiedet . Damit wirbele sie nur unnötig Staub auf. Schon zuvor hatte sich Aras bei den Fraktionen unbeliebt gemacht, weil sie – nach einhelliger Expertenkritik - auf rechtmäßige Verhältnisse bei den parlamentarischen Beratern dringt. Das Ringen darum dauert an.
Nur zwei externe Einflüsse könnten bis Februar 2025 noch Bewegung ins Thema Wahlrecht bringen: wenn beim Volksbegehren wider Erwarten doch die Hürde von 770 000 Unterschriften genommen würde – oder wenn der Verfassungsgerichtshof ein markantes Urteil zum gleich gerichteten FDP-Vorstoß fällt.