Im Alten Schauspielhaus sind Goethes „Wahlverwandtschaften“ als düstere Tragödie verunglückter Paarbeziehungen zu sehen.

Stuttgart - Die neuen Pflanzungen im Park, das traute Zusammenleben: „Alles ist recht schön geworden“, findet Charlotte, und Eduard sieht das genauso. Sie werfen sich den Satz wie einen Ball zu und noch schwebt er in der Luft. Der Aufprall folgt später. Denn dass alles recht schön geworden sei, bestätigen sich die Figuren in der Bühnenfassung von Goethes „Wahlverwandtschaften“ im Alten Schauspielhaus zwar immer wieder – doch es wird immer offensichtlicher, dass es nicht stimmt.

 

Eduard und Charlotte haben ihr Glück auf Umwege gefunden und sind umso entschlossener es auszukosten. Abgeschieden von der Welt leben sie nichts als traute Zweisamkeit. Vielleicht doch ein wenig langweilig? Jedenfalls starten die Romanfiguren, die Goethe im Jahr 1809 geschaffen hat, einen Versuch: Otto, der Jugendfreund von Eduard und Ottilie, die Nichte Charlottes, beide haltlos in ihrer bisherigen Existenz geworden, sollen fortan ihre Mitbewohner sein. „Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, denken sie sich nun ein C, das sich ebenso zu einem D verhält, bringen Sie nun die beiden Paare in Berührung: A wird sich zu D, C zu B werfen“, so ist im Roman das chemische Prinzip der damals neu entdeckten sogenannten Wahlverwandtschaften der Elemente beschrieben.

Goethe hat dieses Prinzip aus den Naturwissenschaften in das Beziehungsleben übertragen. Es kommt, wie es kommen muss auf der puristischen Bühne von Carolin Mittler, in denen einzig golddurchwirkte Tapeten die Noblesse des Anwesens andeuten – das Ehepaar gerät auseinander und es finden sich neue Konstellationen. Tragfähig sind diese aber nicht. Schön wird das nicht für alle Beteiligten.

Wechselspiel von Anziehung und Abstoßung

„Die Ehe muss unauflöslich sein, sie ist der Anfang aller Kultur“, sagt die junge unschuldige Ottilie (Angelina Berger) einmal. Dass gerade sie sich in den Mann ihrer Tante verliebt, die Institution Ehe ins Wanken bringt, wird für sie lebensgefährlich. Sie kriecht später unter der aufgeständerten schrägen Bühne aus dem Geschehen – ein gelungenes Bild für die Doppelbödigkeit und Unzuverlässigkeit aller Beziehungsnetze, die sich eben nicht nur aus der Vernunft, sondern aus dem Reservoir des Unbewussten und Unberechenbaren speisen.

Martin Schulze hat den Goetheroman um das Wechselspiel von Anziehung und Abstoßung in eine Bühnenfassung gebracht und auch inszeniert. Er ist kein Unbekannter am Alten Schauspielhaus: Vor anderthalb Jahren hat er mit einer vielbeachteten Inszenierung von Schillers „Maria Stuart“ die Intendanz von Axel Preuß eröffnet. Jetzt also Goethe.

Schulze hat den Roman nicht in Dialogform überführt, im Gegenteil. Es gibt immer wieder Passagen, in denen Sabine Fürst und Marco Steeger ihre Verbundenheit als Paar tatsächlich spielen, als Charlotte und Eduard Szenen einer Ehe vorführen. Doch das Experiment dieser Inszenierung ist das permanente aus der Rolle treten der Figuren.

Zwischendrin wird auch mal gesächselt

„Charlotte fühlte sich immer einsamer“. Das sagt nicht etwa eine Stimme aus dem Off oder ihr Gegenüber, das sagt Sabine Fürst als Charlotte selbst über sich. Die Figuren kommentieren ihr Verhalten gegenseitig, sie treiben als Erzählerstimmen die Handlung fort und reflektieren ihr Tun. Innen- und Außensicht wechseln in dieser extrem wortreichen, sich ganz der Sprache Goethes unterordnenden Inszenierung andauernd ab. Das ist eine immense Herausforderung für die Schauspieler und vor allem Sabine Fürst macht sowohl in als auch außerhalb ihrer Rolle eine gute Figur. Doch dieser permanente Perspektivwechsel ist auch fürs Publikum eine Herausforderung, vielleicht auch Überforderung. Wer spricht gerade und über wen, diese Frage steht ständig im Raum. Das Spiel selbst bleibt über weite Strecken ziemlich spröde, einfach weil es zu wenig Gelegenheit dafür gibt.

Erst im zweiten Teil darf das Darstellerquartett auch mal große Emotionen zeigen, sich öfter aus dem tableauhaften Stillstand verabschieden. Hier gelingen den neuen Wahlverwandten immer wieder auch eindringliche Szenen, wenn etwa die ansonsten unscheinbare Ottilie den Kampf um das Leben des ihr anvertrauten Kindes verliert und aus dem roten kompakten Bündel, das als Störfaktor zwischen den Paaren platziert ist, ein nicht mehr in den Griff zu bekommendes Gewirr wird.

Diese Wahlverwandtschaften sind jedenfalls alles andere als eine lockere Plauderei über Beziehungskrisen und Scheidungsdramen, Schulze hat aus dem Stoff eine wuchtige Tragödie gemacht. Selbst wenn zwischendrin mal gesächselt wird, als hätte das Publikum eine Verschnaufpause verdient. Mehr Entlastung hätte aber eine radikalere Verschlankung des Stoffs gebracht: Es werden in diesen zweieinhalb Stunden deutlich zu viele Worte gemacht. „Alles ist recht schön geworden“, das kann Charlotte am Ende nicht mehr sagen, nur noch stammeln. Die Silben bleiben ihr im Hals stecken.

Termine: Bis zum 7. März täglich außer Sonntag