Die Regierungsbilanz von Norwegens Premier Jens Stoltenberg kann sich sehen lassen. Dem Land geht es wirtschaftlich vortrefflich. Trotzdem ist für den Regierungschef eine Wiederwahl so gut wie ausgeschlossen.

Oslo - Um „zu hören, was die Leute wirklich denken“, hat sich Norwegens Premier Jens Stoltenberg einen Nachmittag lang hinter das Lenkrad eines Taxis gesetzt und verdutzte Fahrgäste durch Oslo kutschiert. Die Konfrontation mit der von einer versteckten Kamera gefilmten „Stimme des Volkes“, die sich vor allem über die Zustände in den Schulen und hohe Managergehälter beschwerte, soll dem Sozialdemokraten dringend benötigte Munition für die Endphase des Wahlkampfs liefern. Vier Wochen vor den Parlamentswahlen am 9. September liegen Stoltenberg und seine Alliierten scheinbar hoffnungslos hinter der bürgerlichen Opposition zurück, und alle Prognosen sprechen für einen Machtwechsel nach acht Jahren mit einer rot-rot-grünen Koalition.

 

Nur noch 37 Prozent geben Umfragen dem Mitte-links-Bündnis, und die Aussichten sind düster: die sozialdemokratische Arbeiterpartei (Ap) läuft Gefahr, erstmals seit knapp einem Jahrhundert die Position als größte Partei zu verlieren und von der konservativen Høyre überflügelt zu werden. Sozialisten und Zentrumspartei kämpfen gar gegen die Sperrgrenze von vier Prozent und damit ihren Verbleib im Parlament. „Die Schlacht ist verloren“, konstatiert der Ap-Veteran Thorbjörn Jagland, jetzt gehe es den drei Koalitionspartnern nur noch darum, das eigene Fell zu retten. 2005 und 2009 hatte das rot-grüne Lager gemeinsam Wahlkampf geführt. Diesmal kämpft jeder für sich.

Traumhafte Wirtschaftsbilanz

Dabei hat Stoltenberg eine Wirtschaftsbilanz vorzuweisen, von der andere europäische Regierungen nur träumen können: hohe Überschüsse in den Staatsfinanzen, Vollbeschäftigung, Optimismus in Haushalten und Unternehmen. Der Staatsfonds, in den ein Großteil der jährlichen Einnahmen aus der Ölförderung abgeschöpft wird, um die Pensionen kommender Generationen zu finanzieren, ist auf 580 Milliarden Euro angeschwollen, das macht fast 128 000 Euro pro Norweger. Doch gerade dieser unfassbare Reichtum entpuppt sich als Problem für die Regierung: wie macht man dem Wähler klar, dass man die öffentlichen Ausgaben dennoch zügeln muss? Schlechte Straßen und gefährliche Tunnels, überfüllte Krankenhäuser und lange Wartezeiten auf Operationen treiben die Verantwortlichen in die Defensive.

Auch Stoltenbergs persönliche Popularität hilft der Regierung nicht. Nach den Terroranschlägen von Oslo und Utøya vor zwei Jahren hat sich der bis dahin als trockener Bürokrat bezeichnete Premier als „Landesvater“ profiliert, der stets die richtigen Worte des Trosts und der Ermunterung fand. Dennoch sagt eine knappe Mehrheit der Norweger nun, dass sie lieber die Konservative Erna Solberg an der Spitze der nächsten Regierung sähen. Das seien „nette Zahlen“, kommentiert die Høyre-Vorsitzende die Umfragen.

Dem potenziellen Sieger fehlen die Partner

Dabei geht sie vorsichtig vor. Sie will nicht als Barrikadenstürmerin des Wohlfahrtsstaats die Wähler verschrecken, sondern reichlich vage „das Beste aus Norwegen hervorholen“. Niedrigere Steuern, mehr private Lösungen im Krankenwesen zählen zu ihren Versprechen. Bei 17 Prozent lag die Høyre vor vier Jahren, jetzt kann sie auf mehr als 30 hoffen. Doch wie ein Wahlsieg in eine Regierung umgemünzt werden soll, ist noch völlig offen. Solberg wünscht eine Viererkoalition mit der rechten Fortschrittspartei (Frp) und zwei kleinen Mittefraktionen. Doch während die Frp auf strengere Asylregeln und härteres Durchgreifen gegen ausländische Kriminelle pocht, bemühen sich die Mitteparteien um ein human-liberales Profil. Auch den hemmungslosen Umgang mit den im Ölfonds gehorteten Geldern, den die Rechte propagiert, wollen die anderen bürgerlichen Parteien nicht mitmachen.

Dieses Chaos gibt Stoltenberg Hoffnung. „Nichts ist entschieden, ehe die Wahllokale schließen“, sagt der Regierungschef. Auch seinen Fahrgästen versicherte er, dass er nicht daran denke, den Job zu wechseln und in die Taxibranche einzusteigen. „Es ist besser für das Land und für den Straßenverkehr, wenn ich Ministerpräsident bleibe“, sagte er nach einer unverhofften Vollbremsung, weil er mit den Pedalen des mit automatischem Getriebe ausgerüsteten Wagens nicht zurechtkam.