Waiblingen - - Der Begriff des Pflegenotstands ist in aller Munde. Aber wie sieht die Situation konkret aus? Ist der Pflegenotstand schon da oder steht er in vollem Ausmaß erst bevor? Christian Müller, der Geschäftsführer der Diakoniestation in Waiblingen, gibt über die Lage in der ambulanten Pflege Auskunft.
Herr Müller, es ist immer wieder vom Pflegenotstand die Rede. Welche Erfahrungen haben Sie bei der Diakonie konkret damit gemacht?
Ja, damit haben wir viel zu tun bei 400 Haushalten in Waiblingen, die wir täglich besuchen, und mehr als 800 Pflegebedürftigen insgesamt. Im Jahr sind es 140 000 Hausbesuche, die unsere etwa 80 Mitarbeiter in der Pflege zu leisten haben. Der Pflegenotstand zeigt sich dabei bei uns vor allem darin, dass das Personal immer weniger da ist, um den steigenden Bedarf zu decken. Wir sind an der Grenze dazu, dass das Personal gar nicht mehr vorhanden ist. Mit Kleinigkeiten, wie dass wir auch Menschen, die nur abends oder nur morgens nach acht Uhr oder lediglich punktuell eingesetzt werden können, auch beschäftigen, kommen wir nicht mehr voran. Jetzt ist einfach niemand mehr da.
Was bedeutet diese Personalknappheit für die tägliche Arbeit?
Für die Pflegenden bedeutet das eine Verdichtung der Arbeitszeit und für die Pflegebedürftigen, dass ihre Wünsche immer weniger berücksichtigt werden können. Wenn 200 Leute alle gerne morgens früh zwischen Dreiviertel sieben und halb acht Uhr aufstehen und gewaschen werden wollen, dann geht das eben einfach nicht. In dieser Lage sind aber auch unsere Mitbewerber. Auf einer zweispurigen Autobahn finden auch keine fünf Autos Platz, die nebeneinander fahren wollen. Das ist der Pflegenotstand, der sich auch im ambulanten Bereich immer mehr zeigt. Wir kämpfen jeden Tag, damit Menschen möglichst spät erst ins Heim müssen.
Um wie viel steigt die Zahl der Pflegebedürftigen etwa, die von der Diakonie in Waiblingen versorgt werden?
Das sind pro Jahr etwa zwei bis drei Prozent. Auch der gesamte Markt wächst jährlich um zwei bis drei Prozent. Gleichzeitig kommen die Menschen immer später und immer pflegebedürftiger zu uns. Und sie werden immer kürzer von uns versorgt.
Woran liegt das?
Das Pflegerisiko sinkt, weil die Menschen gesünder älter werden. In der Summe jedoch gibt es immer mehr Ältere und damit auch Pflegebedürftige.
Sie sagten es fehle zunehmend an Personal. Gibt es bereits offene Stellen, die sie nicht mehr besetzen können?
Wir sind gerade noch in der glücklichen Lage, dass wir alle Stellen besetzt haben. Bei Kollegen in anderen Diakoniestationen sieht das aber auch schon anders aus. Manche haben drei bis vier unbesetzte Stellen. In Fellbach zum Beispiel ist es soweit ich weiß besonders knapp. Dort merkt man die Nähe zu Stuttgart. Das saugt Personal ab. Aber auch in Weinstadt und Schorndorf bekommt man die Knappheit zu spüren.
Wie viele Bewerbungen bekommen Sie denn, wenn Sie eine Stelle ausschreiben?
Wir schreiben schon seit vielen Jahren überhaupt nicht mehr aus. Das macht sowieso keinen Sinn. Auf die letzten beiden Ausschreibungen haben wir genau null Bewerbungen erhalten. Daher haben wir nun auf unserer Homepage einen Link für Initiativbewerbungen eingerichtet.
Und wie viele erhalten Sie auf diesem Weg?
Das ist sehr unterschiedlich. Im Jahr sind es etwa zehn. Aber der Punkt, an dem der Personalmangel schlimm wird, kommt erst noch. Wir haben relativ viele ältere Mitarbeiter, die in den nächsten zehn Jahren in den Ruhestand gehen. Doch es kommen keine Jüngeren nach.
Woran liegt das Ihrer Meinung nach? Ist der Beruf als Pflegekraft zu unattraktiv?
Naja, man muss eben auch wochenends und abends arbeiten. Die Bezahlung bei uns ist vergleichbar mit dem öffentlichen Dienst. Aber gerade für Jüngere ist das Einstiegsgehalt gering. Und von den jüngst eingeführten neun Euro Mindestlohn kann man in Waiblingen nicht einmal eine Wohnung zahlen.
Wie könnte die Situation verbessert werden?
Ganz arg wichtig wäre es für alle Beteiligten, die Pflegenden aber auch die Pflegebedürftigen, wenn es zum einen gelingt, den Beruf nach Tarifvertrag zu zahlen und zum anderen auch Wertschätzung und Anerkennung den Menschen entgegenzubringen – und zwar nicht nur von den Patienten sondern auch gesellschaftlich. Denn das ist es, was jemanden motiviert. Dazu gehört dann auch, dass der Beruf finanziell so ausgestattet ist, dass man den Dienst auf unabsehbare Zeit ausüben kann und nicht ständig am Rüberkippen arbeitet. 90 Prozent unserer Kosten sind Personalkosten. Aber wir kriegen die Preise nicht, die wir brauchen, um die Mitarbeiter zu zahlen. Die Vergütung ist zu gering für tarifgebundene Dienste. Wir wirtschaften ständig mit Abmangel. Dieses Jahr wird er fünfstellig sein bei einem Umsatz von zweieinhalb Millionen. Das ist etwas, das in der Gesellschaft stattfinden muss, denn die Kranken- und die Pflegekassen verhalten sich nur so wie die Gesellschaft. Die Gesellschaft muss verstehen, dass man etwas tun muss, damit der Beruf attraktiv bleibt. Um auch zukünftigen Pflegebedürftigen die Qualität der Pflege zu sichern, die wir heute erreicht haben.
Und wie gleichen Sie den Abmangel aus? Durch Spenden?
Spenden bekommen wir so gut wie keine mehr. Nein, wir werden von Krankenpflegefördervereinen unterstützt. Aber eigentlich ist es die Aufgabe der Sozialversicherungen, leistungsgerechte Preise zu zahlen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Für Dienste in der ersten Leistungsgruppe gibt es neun Euro und siebenunddreißig Cent, egal wie viele man davon erbringt und die Fahrt zum Patienten ist auch mit drin. Dazu gehören Dinge wie Blutdruckmessen, Medikamentengabe, Stützstrümpfe anziehen, . . .
Da bleibt nicht mehr viel Zeit, um sich auch mit dem Pflegebedürftigen als Mensch zu befassen, oder?
Viel Kommunikation kann auch während der Pflege noch stattfinden. Aber für einen wirklichen sozialen Kontakt geben die Kranken- und Pflegekassen kein Geld aus. Außerdem wird die Zeit beim Patienten zusätzlich verdichtet durch immer mehr andere Arbeiten, beispielsweise die Dokumentation. Jeder Handgriff muss aufgeschrieben werden und für jeden muss man sich rechtfertigen. Das ist ja auch wichtig, kostet aber Zeit, die uns dann bei den Patienten fehlt.