Von neuen Baugebieten rät Thilo Sekol den Kommunen ab. Im Interview erklärt der Experte, warum Waiblingen seiner Ansicht nach die Finger vom Gebiet Söhrenbergweg lassen sollte.

Baugebiete schaffen Wohnraum, ziehen Steuerzahler an und bringen Geld in die Kasse. Thilo Sekol sieht das anders. Der Fachmann sagt, Neubaugebiete wie das am Söhrenbergweg in Waiblingen bringen weder ökonomischen noch ökologischen Mehrwert, sondern vor allem hohe Folgekosten.

 

Herr Sekol, Waiblingen plant ein Neubaugebiet am Ortsrand. Was raten Sie vorab?

Ich plädiere immer dafür, vor dem Aufstellungsbeschluss eine Wirtschaftlichkeitsanalyse zu machen, sich mit Verkehr, Infrastruktur und Demografie auseinanderzusetzen. Wenn man jetzt wieder viele Einfamilien- oder Reihenhäuser baut und gleichzeitig die Bevölkerung altert, entstehen später noch mehr Leerstände – mit negativen Folgen für den Immobilienwert. Dass Natur zerstört wird, wenn ich eine Fläche versiegele, sollte jedem klar sein. Aber die Argumentation ist dann immer: „Wir schaffen mehr Einkommenssteuer, mehr Arbeitsplätze, also wirtschaftlichen Erfolg.“ Da sage ich: Nein, ihr schafft nicht unbedingt mehr Wohlstand, ihr müsst das genau kalkulieren und ihr könnt das simulieren.

Wie sind Sie auf das Thema gekommen?

Thilo Sekol kommt aus dem Controlling. Foto: privat/cf

Ich komme ursprünglich aus dem Controlling. Mich hat interessiert, wie wirtschaftlich kommunale Flächennutzung ist. Der Anlass war ein Neubaugebiet an meinem Wohnort. Ich habe festgestellt, dass es dort und in allen anderen Kommunen irgendwie fehlt, langfristig strategisch und ökonomisch zu denken. Wenn ein Unternehmen investiert, erstellt es einen Businessplan über mehrere Jahre. Aber bei Kommunen passiert das nicht. Das fand ich seltsam – also habe ich angefangen, mich damit zu beschäftigen, es berechnet, prüfen lassen, und festgestellt: es ist schwer, Flächenerweiterungen positiv darzustellen.

Ist Ihr Heimatort eine Ausnahme oder der Normalfall?

Eher die Regel. Ich würde behaupten, 80 bis 90 Prozent in den Gemeinderäten verstehen nur wenig von kommunaler Finanzierung und dem damit verbundenen kommunalen Finanzausgleich. Sie wissen nicht, wo die konkreten Stellschrauben sind. Wenn man eine Million Euro Gewerbesteuer einnimmt, dann kann schon jetzt gesagt werden, dass durch den Finanzausgleich in zwei Jahren dafür circa 700 000 Euro zurückgezahlt werden müssen. Den meisten Ratsmitgliedern fehlt dieses langfristige Denken.

Wie ist es bei Wohngebieten?

Bei Wohngebieten bleibt pro Einwohner kaum Ertrag übrig, es gibt aber Ansprüche, die finanziert werden müssen, wie Sportanlagen, Kindergärten, Schulen und öffentlicher Nahverkehr. Das muss aus dem Ertrag, also Einnahmen abzüglich Kosten für den Bürger, zum Beispiel Verwaltungskosten, finanziert werden.

Sie haben eine Simulation für das Gebiet Söhrenberg gemacht…

Ja. Das gesamte Areal wird in 25 Jahren nach erster grober Berechnung einen Gesamtverlust von circa 12,5 Millionen Euro erwirtschaften.

Was antworten Sie auf das Argument, es werde Wohnraum geschaffen?

Wir haben eigentlich kein Wohnungsproblem, nur eine völlig falsche Verteilung. In Verdichtungsräumen fehlt Wohnraum, auf dem Land ist er da. Etwa 50 bis 70 Prozent wollen auf dem Land wohnen, sie können es aber nicht wegen fehlender Infrastruktur. Und wir heizen Verdichtungsräume immer mehr an. Schauen Sie sich Berlin an: Da sind die Ministerien von Bonn hingezogen, mit Tausenden von Beamten. Wir machen vieles verkehrt, weil wir nicht langfristig strategisch, national, vielleicht sogar europäisch denken und bei Infrastruktur, Arbeitsmarkt, Verkehr und im sozialen Bereich eine falsche, wenig abgestimmte Politik betreiben.

Kommunen setzen zu stark auf Wachstum über Wohn- und Gewerbegebiete?

Richtig. Das ist auch oft das Einzige, was ein Bürgermeister überhaupt noch gestalten kann. Ein neues Wohngebiet, ein neues Gewerbegebiet – das wirkt sichtbar. Aber langfristig ist das nicht immer sinnvoll. In 20 Jahren redet keiner mehr über das Wachstum, aber das Geld wird knapp, und die Infrastrukturkosten holen einen ein, eben wegen der Folgekosten.

Wie sollte aus Ihrer Sicht neuer Wohnraum entstehen?

Dazu gibt es Beispiele in der Deutschlandstudie 2019 von Professor Dr. Karsten Tichelmann. Demnach ließen sich allein durch Aufstocken von Gebäuden, Nutzung von Leerständen wie Bürogebäuden und Überbauung von Parkplätzen 2,7 Millionen Wohnungen schaffen. Hinzu kommen die Leerstände auf dem Land und in den Städten von 1,9 Millionen Wohnungen (Stand 2022). Wir müssen dafür sorgen, dass der ländliche Raum wieder mehr genutzt wird. Bei entsprechender Infrastruktur ist das machbar und günstiger als in die Fläche zu gehen.

Unter welchen Voraussetzungen können sich Kommunen noch Baugebiete leisten?

Ich vermute, der Zug ist abgefahren. Bei der derzeitigen kommunalen Finanzierung rechnet sich das nicht. Anders eventuell schon, wenn man beispielsweise statt einer Grundsteuer eine Infrastrukturabgabe erhebt. Die Kommune weiß ja ungefähr, was der jährliche Unterhalt eines Baugebiets kostet und was sie zurücklegen müsste, um Infrastruktur wie Kanalisation und Straßen in Zukunft zu erhalten. Wenn Sie das umlegen und die Bürger pro Einheit oder pro Quadratmeter Grund zahlen lassen, kommen Sie auf ganz andere Verhältnisse. In den USA hat man eine Property Tax, da wird der Kindergarten, der Sheriff und einiges andere mitfinanziert. Ich denke, das ist fair. Diese Abgabe ist aber sicherlich ungefähr drei bis vier Mal so hoch wie die derzeitige (alte) Grundsteuer.

Waiblingen muss sparen. Wäre die Stadt also gut beraten, gar keine Neubaugebiete mehr auszuweisen?

Korrekt, das belastet die zukünftigen Haushalte und bringt keinen ökonomischen und ökologischen Mehrwert.

Was läuft denn falsch?

Aktuell richtet sich die kommunale Finanzierung zu stark nach Einwohnerzahlen und viel zu wenig nach Bedarf oder Nachhaltigkeit. Wir müssten eine andere Finanzierung haben und uns ein Stück von der kommunalen Selbstverwaltung verabschieden. Die Kommunen können vielfach einfach entscheiden, ohne die Folgeauswirkungen richtig zu bedenken und dann geht das meistens zu Lasten der Allgemeinheit.

Das heißt, mehr Kontrolle wäre angebracht?

In anderen Ländern entscheidet eine übergeordnete Behörde, wo Wohn- und Gewerbegebiete entstehen. Bei uns wäre das wahrscheinlich der Landkreis oder das Regierungspräsidium. Im Ort wird immer „gemauschelt“, da sitzen der Architekt, der Landwirt und der Bauunternehmer im Gemeinderat. Eine übergeordnete Behörde ist immer gut, um das ein bisschen zu neutralisieren.

Wie kommen Kommunen zu Geld?

Es gibt genügend andere kreative Finanzierungen – wie zum Beispiel das Münchner Modell der sozial gerechten Bodennutzung, das ich sehr fair finde.

Erklären Sie mal!

Grob: wenn ich Ackerland in Bauland transformiere, bin ich nach dem Münchner Modell dazu verpflichtet, 70 Prozent der Wertsteigerung für sozialen Wohnungsbau, Kindergärten, Sportstätten und Grünanlagen zur Verfügung zu stellen. München hat damit über Jahrzehnte 700 Millionen Euro eingenommen und zum Beispiel viele Kindergärten damit finanzieren können, auch Sozialwohnungen.

Ideen gibt es also, wie kriegt man sie umgesetzt?

Ein juristischer Hebel wäre, die Innenverdichtung als wirtschaftlichere Lösung gesetzlich zu verankern. Wer bestehende Infrastruktur nutzt, spart Geld. Stockt man in einem Ortskern auf, wo die Infrastruktur vorhanden ist, würden mehr Menschen dort wohnen und die einzelnen weniger Infrastrukturabgabe zahlen. Das heißt, es wird auch billiger für die Menschen.

Thilo Sekol in Waiblingen

Biografie
Thilo Sekol studierte BWL an der Uni Mannheim und absolvierte parallel ein Studium in Michigan/USA. Seine Dissertation an der Uni Jena verfasste er über Nachhaltigkeit, Wirtschaftlichkeit und Planungsverlauf bei Flächenerweiterungen.

Vortrag
Am Mittwoch, 21. Mai, ist Thilo Sekol von 19 Uhr an im Kulturhaus Schwanen, Winnender Straße 4, in Waiblingen zu Gast. Der Vortrag mit Diskussion hat das Thema „Was kostet uns ein Neubaugebiet?“