Wird Melissa Radocaj auf ihre Zwillingsschwangerschaft angesprochen, dann fängt sie an zu strahlen und bezeichnet den baldigen Doppelnachwuchs als „unsere kleinen Wunder“. Doch so glücklich die 42-jährige Waiblingerin über die Schwangerschaft ist, so verzweifelt ist sie angesichts ihrer kräftezehrenden Suche nach einem Kinderarzt. Eigentlich wollte sie gar nicht so früh anfangen, nach einem Arzt für ihre Zwillinge zu suchen, schließlich ist sie erst im fünften Monat und die Babys also noch eine ganze Zeit lang gut aufgehoben im schützenden Bauch. „Alle haben mir geraten, ganz langsam zu machen, weil ich noch so viel Zeit hätte. Aber weil ich selbst schon große Probleme hatte, einen Arzt zu finden, traute ich der Sache nicht und fing schon früh an zu suchen“, sagt Melissa Radocaj.
Melissa Knödler ist froh, auf ihr Bauchgefühl gehört zu haben
Im Nachhinein ist die Frau, die in Stuttgart aufgewachsen ist, dann nach Hemmingen zog und später ihrem jetzigen Ehemann nach Waiblingen folgte, froh darüber, dass sie auf ihr Bauchgefühl gehört hat. Denn was sie erlebte, seit sie das erste Mal den Hörer in die Hand nahm, glaubt sie noch immer nicht: Eine Absage folgte auf die nächste. „Ich habe natürlich ganz klassisch erst mal die Praxen abtelefoniert, die fußläufig liegen und den Radius dann immer mehr vergrößert“, sagt Melissa Radocaj. Doch überall – bestimmt über 50 mal bis Stuttgart und Plochingen – habe sie das Gleiche zu hören bekommen. „Entweder hieß es, dass die Praxis momentan voll sei oder dass es generell im Kreis einen Aufnahmestopp gebe.“
Die gelernte Krankenschwester denkt mit Schrecken an die Krippensuche
Sobald die gelernte Krankenschwester Praxen anrief, die weiter entfernt von ihrem Wohnort liegen, wurde ihr geraten, doch im näheren Umfeld zu suchen. „Es war unglaublich und völlig paradox. Wenn ich dann noch gesagt habe, dass ich noch keine Geschwisterkinder in der Praxis als Patienten habe, weil meine Kinder doch erst noch auf die Welt kommen, war die Sache gelaufen.“ In die Klinik zu gehen, erschien der 42-Jährigen keine Lösung. Mit Grauen dachte sie daran, dass sich die Problematik jetzt wohl über die Hebammensuche bis hin zum Krippenplatz durchziehen werde. „Da fehlt es überall an genügend Fachpersonal.“
Melissa Radocaj, die als Gesundheitsberaterin beim Thieme-Verlag genau weiß, wie verzweifelt man als Anrufer ist, fragte in den Kinderarztpraxen um Rat, was sie denn nun tun solle. Häufig bekam sie den Tipp, sie solle doch die 116 117 anrufen. Diese Hotline stellt Anrufer – je nach Wohnort – direkt an eine regionale Leitstelle der Kassenärztlichen Vereinigungen durch. Die Mitarbeiter nehmen das Anliegen auf und geben beispielsweise den Standort einer Bereitschaftsdienstpraxis durch. In einem Fall wie dem von Melissa Radocaj sieht Kai Sonntag, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW), die Nummer aber nur bedingt als Hilfe. „Das ist eine Möglichkeit, aber so kann eher ein Arzt beim aktuellen Bedarf, beispielsweise ein Facharzt, vermittelt werden. Einen Kinderarzt will man dagegen ja langfristig als Anlaufstelle.“
Im akuten Notfall könne es aber eine Lösung sein, sich über die Hotline einen Kinderarzt vermitteln zu lassen, der eine Diagnose stelle oder eine dringend notwendige Vorsorgeuntersuchung mache. „Danach muss dann aber für die dauerhafte Lösung weitergesucht werden“, sagt der Sprecher und führt auch noch die Telemedizin, ebenfalls ein Service der KVBW, ins Feld. Das könne eine gute Lösung für eine Beratung sein, aber eben nur, wenn keine Untersuchung nötig ist. „Eltern nutzen das gratis Angebot am Bildschirm, um Symptome zu schildern und für eine Einschätzung. Aber natürlich geht so keine Vorsorgeuntersuchung.“
Für Melissa Radocaj war letztlich ihr Mann, genauer gesagt seine Privatversicherung, die letzte Lösung. Denn fast genauso oft wie den Tipp, die KVBW anzurufen, durfte sie sich die Frage anhören, ob sie gesetzlich oder privat versichert sei. „Wenn ich gesagt habe, dass ich gesetzlich versichert bin, war direkt Schluss mit dem Telefonat. Oft lief auch erst mal ein Band. Man musste den Versicherungsstatus angeben und wurde erst dann verbunden“, sagt die Krankenschwester. Sie prangert den Zustand, dass fast nur noch mit Privatversicherung ein Arzt gefunden werde, stark an und verfolgt die politischen Debatten dazu. „Es kann einfach nicht sein, in welche Zweiklassengesellschaft wir da immer mehr reinrutschen. Aber ich habe es selbst erlebt. Als ich sagte, die Zwillinge würden dann eben über meinen Mann privat versichert werden, war es plötzlich kein Problem mehr, und ich fand einen Arzt in Weinstadt.“ Ein Phänomen, das Kai Sonntag als Einzelfall bezeichnet. „Wir haben weder das Gefühl, dass es bei den Kinderärzten einen Aufnahmestopp gibt, noch dass nur noch Privatpatienten genommen werden. Aber die Praxen sind aktuell überfüllt. Und letztlich entscheiden die Ärzte selbst, wen sie aufnehmen“, sagt der KVBW-Sprecher.
Die werdende Mutter prangert die Zweiklassengesellschaft an