Die weltweit erste Waldorfschule wurde vor über hundert Jahren auf Initiative des Zigarettenfabrikanten Emil Molt in Stuttgart für Arbeiterkinder gegründet. Bis heute folgt sie der Pädagogik von Rudolf Steiner. Doch die Schülerschaft hat sich gewandelt.
Stuttgart - Das war ein Wurf damals, am 7. September 1918, als an der Stuttgarter Haußmannstraße die erste Waldorfschule der Welt eröffnet wurde. Wer hätte damals geahnt, dass diese Pädagogik, die Rudolf Steiner im Auftrag des Unternehmers Emil Molt für die Arbeiterkinder der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria entwickelt hatte, über ein Jahrhundert später noch aktuell sein würde, ja, dass sie sich in mehr als 80 Ländern in allen Kontinenten verbreiten würde?
Was macht die Waldorfschule so beliebt, dass es allein in Stuttgart mittlerweile vier davon gibt? Dass in der Landeshauptstadt jeder 20. Schüler ein Waldorfschüler ist? Fest steht, dass die Waldorfschule einige Besonderheiten bietet, die andere Schulen, auch private, nicht haben. Das betrifft sowohl Unterricht als auch Organisationsform.
Niemand bleibt sitzen
Herausstechende pädagogische Merkmale sind das Klassenlehrerprinzip, das Nicht-Sitzenbleiben und der hohe Stellenwert der handwerklichen und künstlerischen Fächer. So stricken, nähen und schneidern Buben und Mädchen gemeinsam in der Handarbeit und sägen, hämmern und feilen zusammen im Werkunterricht. In der Eurythmie setzen die Schüler Sprache und Töne in Bewegung um. Es ist also kein Witz, dass sie ihren Namen tanzen können. Nebenbei stärkt es auch ihre Koordinationsfähigkeit. Und wo sonst gehören Gartenbauunterricht samt Bodenbearbeitung und Pflanzenveredelung, aber auch plastisches Gestalten mit Ton, Holz, Stein, Metall zum Unterrichtsrepertoire?
Da die Waldorfschule eine staatlich anerkannte Ersatzschule ist und natürlich auch Sprachen, Naturwissenschaften, Kunst, Geschichte und Mathe vermittelt, wenn auch mit einer anderen Methodik als staatliche Schulen, können dort alle staatlichen Abschlüsse erreicht werden: Haupt- und Realschulabschluss, Fachhochschulreife, Abi. Zu den organisatorischen Besonderheiten gehört, dass sich die Waldorfschulen selbst verwalten und ohne Hierarchie und Direktor auskommen, wie sie betonen. Für die pädagogische Führung ist das Lehrerkollegium verantwortlich, Rechtsträger ist ein Verein, dem Eltern, Mitarbeiter und Freunde der Schule angehören.
Nicht immer erweist sich diese Konstruktion, nämlich der Verzicht auf eine Außenlenkung, als Vorteil – etwa bei Konflikten. Immer wieder zu schaffen macht den Waldorfschulen die Finanzierung. Zum einen tragen sie sich durch Elterngebühren, zum anderen durch staatliche Unterstützung. 5113 Euro seien es in Baden-Württemberg im Jahr 2017 pro Schüler gewesen, erklärt Thomas Rohloff vom Bund der Freien Waldorfschulen. In Baden-Württemberg und in Stuttgart geht die Zahl der Waldorfschüler inzwischen etwas zurück. Ist der Markt an Waldorfschulen gesättigt? Rohloff sprach 2019 von einer „Stagnation auf hohem Niveau“. Das könne viele Ursachen haben. Eine Erklärung sei, dass es eine Tendenz zu kleineren Klassen gebe. Die Klassen in der Waldorfschule sind teilweise allerdings größer als an einer staatlichen Schule.
Jubiläum 2019
Knapp 1000 Schüler besuchten die zweizügige Mutterschule auf der Uhlandshöhe mit ihren 90 Lehrern und 70 Mitarbeitern vor der Corona-Pandemie. Wegen ihres 100-Jahr-Jubiläums im Jahr 2019 hatte sie sogar die Sommerferien um eine Woche vorverlegt. Höhepunkt der Feierlichkeiten war ein Festakt in der Liederhalle mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Flankiert wurde das Ereignis durch einen Kongress auf der Uhlandshöhe – ein internationales Arbeitstreffen der Waldorfpädagogen. Thema: „Am Anfang steht der Mensch“.
Hinweis: Dieser Artikel ist im Sommer 2019 erschienen und wurde im Juli 2024 aktualisiert.